Erbarmen
»Privat? Ich habe ihn vor dem Termin in Christiansborg nie gesehen. Dafür hatten weder er noch ich Zeit. Daniel Hale war auch so gut wie nie zu Hause. Er flog andauernd von einem Ort zum anderen. Ein Tag in Connecticut, am nächsten in Aalborg. Hin und her, in einer Tour. Mag sein, dass ich einige Bonusmeilen als Vielflieger gesammelt habe. Aber Daniel Hale muss eine solche Menge hinterlassen haben,
dass eine ganze Schulklasse dafür bestimmt ein Dutzend Mal um den Globus fliegen könnte.«
»Sie hatten ihn vor diesem Termin nie getroffen?«
»Nein.«
»Es muss doch Treffen und Diskussionen und Preisabsprachen und dergleichen gegeben haben?«
»Wissen Sie, dafür habe ich meine Leute. Ich kannte das Renommee Daniel Hales, wir haben ein paarmal telefoniert, und dann ging es los. Die weiteren Details der Zusammenarbeit haben Hale und meine Leute miteinander abgesprochen.«
»Okay. Ich würde dann gern mit jemandem hier im Unternehmen sprechen, der mit Hale zusammengearbeitet hat. Wäre das möglich?«
Bille Antvorskov holte so tief Luft, dass der hart gepolsterte Ledersessel unter ihm knarrte.
»Ich weiß nicht, wer von ihnen noch da ist, es ist schließlich fünf Jahre her. In unserer Branche ist viel Bewegung. Alle suchen ständig neue Herausforderungen.«
»Aha.« Gab der Idiot wirklich zu, dass er nicht in der Lage war, seine Leute zu halten? »Sie können mir nicht zufällig die Anschrift seines Unternehmens geben?«
Er zog die Mundwinkel herunter. Klar, dafür hatte man doch seine Leute.
Die Gebäude sahen aus, als seien sie erst in der letzten Woche fertiggestellt worden, dabei waren sie bereits sechs Jahre alt.
Interlab A/S
stand meterhoch auf dem Schild am Springbrunnen vor dem großen Parkplatz.
Am Empfang betrachteten sie Carl Mørcks Polizeimarke, als hätte er sie in einem Laden für Scherzartikel gekauft. Aber nach zehn Minuten kam dann doch ein Assistent zu ihm herunter. Als Carl sagte, er habe einige Fragen eher privaten Charakters, wurde er sofort aus der Eingangshalle in einen Raum mit Lederstühlen und Tischen aus Birkenholz sowie mehreren Glasschränken mit Getränken geführt. Hier präsentierte sich
das Unternehmen Interlab seinen ausländischen Gästen auf eindrucksvolle Weise. Überall fanden sich Belege für die enorme Bedeutung der Firma: Preise, Diplome und Fotos von zahlreichen Projekten aus aller Welt schmückten die Wände. Nur die Wand zu der japanisch inspirierten Auffahrt zum Konzern hatte Fenster, durch die Sonnenstrahlen in den Raum fielen.
Der Gründer des Unternehmens war offensichtlich Daniel Hales Vater gewesen, aber den Fotos an den Wänden nach zu urteilen, war seither viel geschehen. Daniel hatte sein Erbe in der kurzen Zeit, in der er der Chef gewesen war, vorangebracht, und er hatte es wohl auch gern getan. Zweifellos war er geliebt und früh auf die entsprechende Fährte gesetzt worden. Eines der Fotos zeigte Vater und Sohn, die eng beieinanderstanden und fröhlich lächelten. Der Vater trug Anzug mit Weste und symbolisierte damit die alten Zeiten, die dabei waren, sich zu verabschieden. Der Sohn lächelte - klug und wissend. Er wirkte, als sei er bereit, seinen Beitrag zu leisten.
Hinter Carl waren Schritte zu hören.
»Was kann ich für Sie tun?« Eine korpulente Frau in flachen Schuhen stellte sich als Leiterin der Abteilung für Öffentlichkeitsarbeit vor. Auf ihrem ID-Clip am Revers stand Aino Huurinainen. Finnische Namen hatten einfach immer etwas Komisches.
»Ich möchte gern mit jemandem sprechen, der seinerzeit eng mit Daniel Hale zusammengearbeitet hat. Vor allem in den letzten Wochen vor seinem Tod. Mit jemandem, der ihn auch persönlich wirklich gut kannte. Einer, der wusste, was er dachte und wovon er träumte.«
Sie sah ihn an, als habe er sich ihr auf unsittliche Weise genähert.
»Können Sie mich mit einem solchen Menschen zusammenbringen ?«
»Niemand kannte ihn wohl besser als der Verkaufsdirektor Niels Bach Nielsen, würde ich denken. Aber ich fürchte, dass er nicht mit Ihnen über Daniel Hales Privatleben sprechen will.«
»Und warum sollte er das nicht wollen?«
Wieder sah sie ihn an, als er habe er ihr einen obszönen Antrag gemacht.
»Niels ist über Daniels Tod nie hinweggekommen.«
Er erfasste den Unterton, der in ihren Worten mitschwang. »Sie meinen, die beiden waren ein Paar?«
»Ja. Niels und Daniel gingen zusammen durch dick und dünn, sowohl privat als auch bei der Arbeit.«
Einen Moment sah er in ihre blassblauen
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