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Erbarmen

Erbarmen

Titel: Erbarmen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jussi Adler-Olsen
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Sachen, die sie am Leib trug, war der Raum vollkommen leer. Die Wände waren glatt. Es gab nichts, worum sie die Jackenärmel winden konnte, nichts, woran sie den Körper aufhängen konnte, bis er erlöst war. Blieb einzig die Möglichkeit, zu verhungern. Die einförmige Kost verweigern, sich weigern, das bisschen Wasser zu trinken, das sie ihr zugestanden. Vielleicht warteten die ja darauf. Vielleicht war sie Gegenstand einer irren Wette. Menschen hatten sich zu allen Zeiten an den Qualen ihrer Mitmenschen geweidet. In den Ablagerungen menschlicher Geschichte fanden sich bei genauerer Betrachtung unendlich dicke Schichten fehlenden Mitgefühls. Jahr für Jahr lagerten sich Sedimente neuer Schichten ab, das spürte sie jetzt am eigenen Leib. Nun wollte sie nicht mehr.
     
Sie schob den Essenseimer zur Seite, stellte sich vor das eine Bullauge und erklärte, sie würde von nun an nichts mehr essen. Ihr würde es reichen. Dann legte sie sich auf den Boden und hüllte sich in die Fetzen ihrer Kleidung und in ihre Träume. Nach ihrer Berechnung musste es der 6. Oktober sein. Sie rechnete damit, eine Woche durchzuhalten. Dann würde sie fünfunddreißig Jahre, drei Monate und eine Woche alt sein. Ganz genau zwölftausenddreihundertundzwölf Tage rechnete sie aus, aber sie war nicht ganz sicher. Sie würde keinen Grabstein bekommen. Nirgendwo wären Geburts- und Todesdatum zu lesen. Es gäbe nach ihrem Tod keinen Ort, den man mit ihr in Verbindung brächte, weil niemand ahnte, wo sie die letzte Zeit ihres Lebens verbracht hatte. Außer ihren Mördern würde nur sie selbst den Ort und den Zeitpunkt ihres Todes kennen. Und nur sie allein wüsste es im Vorhinein. Etwa am 13. Oktober 2005 würde sie sterben.
    Am zweiten Tag der Essensverweigerung schrien sie zu ihr hinein, sie müsse die Eimer austauschen, aber sie tat es nicht. Was können die tun, wenn ich ihren Befehlen nicht gehorche?, dachte sie. Sie konnten entweder die Eimer in der Schleuse stehen lassen oder sie zurücknehmen. Es scherte sie nicht.
    Sie ließen den Eimer in der Schleuse stehen und wiederholten das Ritual in den nächsten Tagen. Der alte Eimer raus, ein neuer rein. Den ließen sie stehen. Sie schimpften mit ihr. Drohten ihr, den Druck heraufzusetzen und anschließend alle Luft herauszulassen. Aber wie konnten sie ihr mit dem Tod drohen, wenn sie ihn doch wollte? Vielleicht kämen sie herein, vielleicht nicht, ihr war es egal. Sie ließ sich von Gedanken und Bildern und Erinnerungen überrollen, Hauptsache, die übertönten dieses Pfeifen im Ohr. Am fünften Tag floss alles ineinander. Träume von Glück, ihre politische Arbeit, Uffe, der allein auf dem Schiff stand, die Liebe, der sie sich verweigert hatte, die Kinder, die sie nie bekam, Mr Bean und stille Tage vor dem Fernseher. Sie spürte, wie der Körper langsam seine unerfüllten Bedürfnisse losließ. Nach und nach lag sie immer leichter auf dem Boden, ein erstaunlicher Zustand stellte sich ein, und die Zeit verging, während das Essen im Eimer neben ihr zu verfaulen begann.
    Alles war, wie es sein sollte. Bis sie plötzlich ein Pochen im Kiefer verspürte.
    In ihrem apathischen Zustand fühlte es sich zuerst wie ein Vibrieren an, das von außen kam. Gerade stark genug, dass sie mit den Augen blinzelte, mehr nicht. Kommen sie zu mir herein, oder was passiert?, überlegte sie kurz, verfiel dann aber wieder in ihren Dämmerzustand. Nach ein paar Stunden erwachte sie von einem Schmerz, schneidend wie ein Messer, das sich durch ihr Gesicht bohrte.
    Sie wusste nicht, wie spät es war, sie wusste nicht, ob die dort draußen waren, und sie schrie, wie sie noch nie in diesem Raum geschrien hatte. Ihr Gesicht spaltete sich auf. Der Schmerz von ihrem Zahn klopfte in ihrer Mundhöhle wie ein Kolben, und sie hatte nichts, was sie dem entgegensetzen konnte. O Gott, war das die Strafe dafür, dass sie selbst über ihr Leben verfügen wollte? Nur fünf Tage, in denen sie nicht auf sich geachtet hatte, und dann diese Strafe. Sie steckte vorsichtig einen Finger in den Mund und spürte, wie sich das Zahnfleisch über dem hintersten Backenzahn wölbte. Dieser Zahn war schon immer eine Schwachstelle gewesen. Die sicheren Einkünfte des Zahnarztes, diese verdammten Taschen, die ihr selbst gebastelter Zahnstocher jeden Tag gesäubert hatte. Vorsichtig drückte sie auf die Schwellung. Der Schmerz explodierte förmlich, er ging durch Mark und Bein. Sie fiel vornüber, riss den Mund weit auf und schnappte nach Luft. Es

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