Erbarmen
war nicht lange her, da hatte sich ihr Körper in einen Dämmerzustand zurückgezogen, aber jetzt war er in einer Schmerzenshölle aufgewacht. Wie das Tier, das sich die eigene Pfote abbiss, um sich aus dem Fuchseisen zu befreien. War der Schmerz eine Waffe gegen den Tod, dann war sie jetzt lebendiger denn je.
»Aua«, weinte sie wie ein Kind. Dieser Schmerz. Es tat so weh! Sie nahm ihren Zahnstocher und führte ihn langsam in den Mund. Probierte vorsichtig, ob wohl etwas unter dem Zahnfleisch saß, das die Entzündung verursacht hatte. Aber im selben Augenblick, wo sie spürte, wie die Spitze ins Fleisch piekste, explodierte der Zahn wieder in entsetzlichen Qualen.
»Du musst ein Loch hineinstechen, Merete, nun komm schon«, heulte sie und wollte schon zustechen. Doch ein furchtbarer Würgereflex ließ sie innehalten. Sie musste zustechen, aber sie brachte es einfach nicht fertig.
Stattdessen kroch sie zur Schleuse, um nachzusehen, was sie ihr heute im Eimer geschickt hatten. Vielleicht war etwas dabei, das den Schmerz lindern konnte. Vielleicht würde ein Tropfen Wasser direkt auf die entzündete Stelle helfen, dass es aufhörte, so schrecklich zu pochen?
Sie sah in den Eimer und entdeckte Verlockungen, von denen sie früher nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Zwei Bananen, ein Apfel, ein Stück Schokolade. Es war total absurd. Sie hatten also vor, ihren Hunger zu provozieren. Sie wollten sie zwingen, zu essen, und jetzt konnte sie nicht. Sie konnte und sie wollte nicht.
Die nächste Schmerzwelle hätte sie fast umgehauen. Da nahm sie das Obst, legte es auf den Boden und holte den Wasserbehälter heraus. Sie steckte den Finger ins Wasser und führte ihn zur Schwellung. Aber die eisige Kälte hatte nicht die gewünschte Wirkung. Da war der Schmerz und da das Wasser, und beides hatte absolut nichts miteinander zu tun. Nicht einmal gegen den Durst konnte das Wasser etwas ausrichten.
Da zog sie sich zurück und legte sich zusammengekrümmt unter die verspiegelten Scheiben. Im Stillen bat sie Gott um Vergebung. An einem gewissen Punkt würde der Körper schon von selbst aufgeben, das wusste sie. Sie musste dann eben ihre letzten Tage mit diesem Schmerz leben.
Aber auch der würde schließlich aufhören.
Wie in Trance drangen die Stimmen zu ihr durch. Sie nannten sie beim Namen. Appellierten an sie. Sie solle antworten. Sie öffnete die Augen. Die Schwellung gab im Augenblick Ruhe. Sie merkte, dass ihr kraftloser Körper noch immer neben dem Toiletteneimer unter den Bullaugen lag. Sie starrte an die Decke. Hoch oben über ihr blinkte eine der Leuchtstoffröhren. Da waren doch Stimmen gewesen? Hatte sie wirklich etwas gehört?
»Das stimmt, sie hat das Obst genommen«, sagte in dem Moment eine klare Stimme.
Das ist real, dachte sie und war viel zu schwach, um erschüttert zu sein.
Es war die Stimme eines Mannes. Nicht jung, aber auch nicht alt.
Sie hob den Kopf, aber nicht so weit, dass man sie von außen sehen konnte.
»Von hier, wo ich stehe, kann ich das Obst sehen«, sagte eine Frauenstimme. »Es liegt auf dem Boden.« Sie war es, die einmal im Jahr zu ihr sprach, bei der Stimme irrte sie sich nicht. Die dort draußen hatten sie offenbar gerufen und dann vergessen, die Sprechanlage auszuschalten.
»Sie ist bestimmt wieder zwischen die Scheiben gekrochen«, fuhr die Frau fort.
»Meinst du, sie ist tot? Inzwischen ist eine Woche vergangen.« Das war der Mann, der sprach. Seine Stimme klang so normal. Aber an dem, was er sagte, war nichts normal. Sie sprachen über sie.
»Das könnte ihr ähnlich sehen, dieser Sau.«
»Sollen wir den Druck ausgleichen und nachschauen?«
»Und was willst du dann mit ihr machen? Alle Zellen in ihrem Körper sind an fünf bar Überdruck angepasst. Es dauert eine Woche, um ihren Körper herunterzufahren. Wenn wir jetzt aufmachen, explodiert sie auf der Stelle! Du hast ja ihren Stuhlgang gesehen, wie der sich hier draußen ausdehnt. Und der Urin, der brodelt doch förmlich. Sie hat jetzt drei Jahre in dieser Druckkammer gelebt, vergiss das nicht.«
»Können wir den Druck nicht einfach wieder erhöhen, wenn wir gesehen haben, dass sie noch lebt?«
Die Frau dort draußen antwortete nicht. Aber es war eindeutig, dass sie diese Möglichkeit ausschloss.
Merete atmete immer schwerer. Diese Stimmen gehörten teuflischen Wesen. Wenn es ihnen möglich wäre, würden die sie bis in alle Ewigkeit zerfetzen und neu zusammennähen. Sie war im innersten Kreis der Hölle.
Kommt nur
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