Erbarmen
paar Fälle für euch. Die sind aus dem Kreis Südost-Jütland.« Sie brachte einen Duft mit in den Keller, der sich mit Assads Räucherstäbchen messen konnte, aber eine ganz andere Wirkung zeitigte. »Sie bedauern die Verspätung sehr, aber es hat Ausfälle wegen Krankheit gegeben.«
Sie reichte einem überschwänglich freudigen Assad die Akten und warf dann Carl einen Blick zu, der jeden Mann im Unterleib getroffen hätte.
Er starrte auf Lis' feuchte Lippen. Als er sich zu erinnern versuchte, wann er zuletzt engeren Kontakt zum anderen Geschlecht gehabt hatte, stand ihm deutlich die hellrote Zweizimmerwohnung einer geschiedenen Frau vor Augen. Es gab Lavendelblüten in einer Schale mit Wasser und überall Teelichte, und über die Nachttischlampe hatte sie ein blutrotes Tuch gehängt. Aber an das Gesicht der Frau konnte er sich nicht erinnern.
»Carl, was hast du mit Bak gemacht?«, wollte Lis wissen.
Er tauchte aus seinem erotischen Tagtraum auf und blickte in ein Paar hellblaue Augen, die gerade etwas dunkler geworden waren.
»Bak? Läuft er rum und beschwert sich?«
»Nein. Er ist nach Hause gegangen. Aber seine Kollegen sagen, dass er ganz weiß war, als er vom Chef kam.«
Er hängte Meretes Handy an das Ladegerät und hoffte, dass der Akku nicht total im Eimer war. Assads emsige Finger waren Ärmel hin oder her - überall in der Tasche gewesen, sodass die Prozedur bei den Technikern ausfiel. Der Schaden war nicht mehr wiedergutzumachen.
Nur drei der Seiten im Notizbuch waren beschrieben, der Rest war leer. Die Notizen betrafen in erster Linie die kommunale Ordnung für Familienhelferinnen oder waren Aufzeichnungen zu Terminen. Sehr enttäuschend und bestimmt bezeichnend für die Realität, die Merete Lynggaard verlassen hatte.
Dann steckte er die Hand tief in eine der Seitentaschen mit ausgeleiertem Gummiband und zog vier, fünf zerknitterte Zettel heraus. Der erste war die Quittung für eine Jack&Jones-Jacke vom J. April 2001, während der Rest solche harmonikagefalteten, kleinen weißen Blätter waren, wie sie in der Schultasche eines jeden normalen Jungen zu finden sind. Handschriftlich, mit Bleistift, eigentlich unleserlich und natürlich nicht datiert.
Er richtete die Arbeitslampe auf den obersten und glättete ihn etwas. Nur acht Wörter.
Können wir nach meinem Beitrag zur Steuerreform reden?
Unterschrieben war mit TB. Viele Möglichkeiten, aber ob nicht Tage Baggesen am wahrscheinlichsten war? Das glaubte er jedenfalls.
Er lächelte. Ha, das war doch gut. Tage Baggesen wollte gern mit Merete Lynggaard reden. Und dabei war ja nicht so viel herausgekolnmen.
Carl glättete den nächsten Zettel, las ihn schnell durch und spürte plötzlich ein Kribbeln im ganzen Körper. Der Ton war anders, viel persönlicher. Baggesen klang bedrängt.
Merete, ich weiß nicht, was passiert, wenn du das veröffentlichst. Ich bitte dich, tu
es
nicht.
Dann nahm Carl das letzte Stück Papier. Die Schrift war verwischt, als habe jemand den Zettel immer wieder aus der Tasche genommen. Nachdem er ihn gedreht und gewendet hatte, versuchte er ihn Wort für Wort zu entziffern.
Merete, ich dachte, wir hätten uns verstanden. Die Geschichte verletzt mich sehr. Ich bitte dich noch einmal: Lass
es
nicht bekannt werden. Ich bin dabei, mich von allem zu trennen.
Diesmal waren keine Initialen unter dem Text, aber es war zweifelsfrei dieselbe Schrift.
Carl nahm den Telefonhörer und gab Kurt Hansens Nummer ein.
Eine der Assistentinnen im Sekretariat der Rechten antwortete. Sie war zuvorkommend, bedauerte aber, Kurt Hansen sei im Augenblick beschäftigt. Ob er solange warten wolle? Soweit sie es beurteilen könne, würde das Treffen in wenigen Minuten beendet sein.
Mit dem Telefonhörer am Ohr betrachtete Carl die Papiere, die vor ihm lagen. Seit März 2002 hatten sie nun in der Tasche gelegen, und höchstwahrscheinlich lagen sie dort schon ein Jahr länger. Vielleicht war es nur eine Bagatelle, vielleicht nicht. Vielleicht hatte Merete Lynggaard sie versteckt, weil sie unter Umständen irgendwann Bedeutung bekommen könnten, vielleicht auch nicht.
Nach einigen Minuten Stimmengewirr im Hintergrund hörte er zuerst ein Klicken, dann Hansens charakteristische Stimme. »Was kann ich für dich tun, Carl?«, fragte der Parlamentarier ohne Umschweife.
»Wie finde ich heraus, wann Tage Baggesen einen Gesetzesvorschlag für eine Steuerreform eingereicht hat?«
»Was zum Teufel willst du mit der Info, Carl?« Er lachte.
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