Erbarmen
schon andächtigen Gefühl. So ging es ihm jedes Mal, wenn er die Möglichkeit hatte, in die letzten Tage und Wochen eines Verstorbenen vorzudringen.
Wie auch bei den Notizen war die Handschrift im Kalender ziemlich unleserlich. Sie schien es permanent eilig gehabt zu haben. Großbuchstaben hingehuscht. N und G, die nicht zu Ende geführt waren. Worte, die ineinander übergingen. Er begann bei dem Treffen mit der Delegation am Mittwoch, dem 20. Februar 2002.
Bankeråt
18.30
Uhr
stand dort etwas weiter unten auf der Seite. Sonst nichts.
In den folgenden Tagen war nicht eine Zeile ausgefüllt. Eine sehr oberflächlich geführte Agenda, fand er. Keinerlei Bemerkungen, die ihn auf irgendetwas mit privaterem Charakter gestoßen hätten.
Als er sich ihrem letzten Arbeitstag näherte, machte sich ein Gefühl von Verzweiflung breit. Nichts, absolut nichts konnte ihm weiterhelfen. Dann blätterte er die letzte Seite um. Freitag, 1.3.2002. Zwei Ausschusssitzungen und eine Fraktionssitzung. Das war's. Alles andere war in der Vergangenheit versunken.
Er schob den Kalender von sich weg, griff nach der leeren Aktentasche, sah hinein. Hatte sie tatsächlich fünf Jahre lang hinter der Heizung gelegen, um ihnen jetzt absolut keinen Hinweis zu liefern? Dann nahm er wieder den Kalender zur Hand und ging das ganze Filofax-System durch. Auch Merete Lynggaard benutzte nichts weiter als die Kalenderseiten und das Adressverzeichnis dahinter.
Er begann bei der Telefonliste von vorn. Er hätte zwar genauso gut gleich zu D oder H springen können, aber er wollte die Enttäuschung noch etwas hinauszögern. Unter den Einträgen zu den Buchstaben A, B und C erkannte er neunzig Prozent der Namen. Das Verzeichnis hatte nicht viel gemeinsam mit seinem, Carls, wo Namen wie der von Jesper, Vigga und jede Menge Nachbarn aus Rønneholtpark dominierten. Daraus war unschwer abzuleiten, dass sie nicht viele private Freunde hatte. Ja, sicher überhaupt keine. Eine schöne Frau mit einem schwerstbehinderten Bruder und dazu verteufelt viel Arbeit, das war es. Als er bei D anlangte, wusste er, dass Daniel Hales Nummer nicht dabei sein würde. Merete Lynggaard notierte ihre Kontakte nicht nach dem Vornamen, wie zum Beispiel Vigga, das unterschied die Leute. Wer würde auch unter G wie Göran den schwedischen Staatsminister suchen? Also - natürlich bis auf Vigga.
Und dann kam es. In dem Moment, als er zu H weiterblätterte, wusste er, dass sich das Blatt gewendet hatte. Man hatte von einem Unglück gesprochen, man hatte von Selbstmord gesprochen, und am Ende hatte man keine weiteren Anhaltspunkte gefunden. Es hatte Hinweise darauf gegeben, dass an dem Fall Lynggaard etwas Merkwürdiges, Außergewöhnliches war. Aber diese Seite hier schrie förmlich nach dieser Einsicht. Das gesamte Kalendarium war voller hastig hingekritzelter Notizen. Buchstaben, Zahlen, die selbst Jesper ordentlicher schreiben würde, und das wollte was heißen. Ihre Schrift war kein sonderlich schöner Anblick und sprach Bände, was ihren Ordnungssinn betraf. Erstaunlich, wenn man diese kometenhafte politische Karriere bedachte. Aber nirgendwo hatte Merete Lynggaard bereut, was sie aufgeschrieben hatte. Nirgendwo gab es Korrekturen. Sie wusste genau, was sie schrieb, wann immer sie etwas notierte. Gut überlegt. Mit einer Ausnahme, hier in der Telefonliste unter dem Buchstaben H. Hier war etwas anders. Er konnte natürlich nicht mit Sicherheit sagen, ob es mit Daniel Hales Namen zu tun hatte. Aber tief im Innern, dort wo ein Polizist seine letzten Ressourcen mobilisiert, wusste er, das hier war ein Volltreffer. Sie hatte einen Namen dick mit Kugelschreiber durchgestrichen. Sehen konnte man es nicht, aber darunter hatte einmal Daniel Hale gestanden und seine Telefonnummer. Er wusste es einfach.
Er lächelte. Also brauchte er die Techniker nun doch. Und die mussten ihre Arbeit nur richtig und zügig machen.
»Assad«, rief er. »Komm mal her.«
Er hörte es auf dem Gang poltern, dann stand Assad in der Tür. Mit grünen Gummihandschuhen und dem Putzeimer. »Ich habe eine Aufgabe für dich. Die Techniker sollen versuchen, die Nummer hier herauszubekommen.« Er deutete auf das Durchgestrichene. »Lis kann dir das Procedere erklären. Sag ihnen, sie dürfen sich gern ein bisschen beeilen.«
Vorsichtig klopfte er an Jespers Zimmertür. Natürlich kam keine Reaktion. Wie üblich nicht zu Hause, dachte er und hatte dabei die hundertundzwölf Dezibel im Sinn, die ansonsten die Tür
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