Erbe des Drachenblutes (German Edition)
von früheren Wasserbewegungen, umgab sie in alle Richtungen, dann spürte sie eine Stelle, die offen war.
`Wo bist du?´ Sie wiederholte die Frage mehrfach im Geist, aber niemand antwortete. Stück für Stück tastete sie sich auf allen Vieren voran. Gerade, als sie die Suche schon fast aufgeben wollte, bemerkte sie vor sich ein Glühen. Sie näherte sich dem aufkommenden Licht wie ein Verdurstender einer Wasserquelle. So erreichte sie einen zwei Meter großen öligen Tümpel. Irritiert beugte sie sich darüber. Auf der dickflüssigen Oberfläche bildeten sich regenbogenfarbene Schlieren, die von links nach rechts drifteten und dann stillstanden. Mina blinzelte und hatte den Impuls, mit einer Hand hineinzugreifen. Kurz bevor ihr Finger die Oberfläche berührten, zuckte die dickflüssige Masse zusammen und die darauf schwimmenden Farben bildeten einen Wirbel, der sich immer schneller drehte. Mina schreckte zurück, doch im nächsten Moment löste das Farbenspiel etwas in ihr aus, das sie nicht beschreiben konnte. All ihre Sorgen waren vergessen, und auch ihre eigene Existenz schien in den Hintergrund zu rücken. Glücksgefühle überschwemmten sie. »Was bist du?«
»Du wirst mir doch nicht weh tun, oder?«
Erschrocken wurde Mina klar, dass es sich um die Stimme des Jungen handelte, den sie auf der Alm gesehen hatte. Etwas sehr Wichtiges geschah hier, das war ihr klar, aber was waren die richtigen Worte?
»Nein, natürlich! Ich werde dir nicht wehtun. Warum sollte ich auch? Wir wollen doch Freunde werden.«
Ohne jeden Übergang war Mina wieder auf der Wiese vor der Almhütte. Die Hütte war in den Hintergrund gerückt, aber der Junge stand nur wenige Schritte von ihr entfernt und blickte sie schüchtern an. Kurzgeschorenes nussbraunes Haar hing ihm frech in die Stirn, ein weißes, altmodisches Hemd steckte in einer grauen Cordhose, und seine nackten Füße waren schmutzig, als wäre er schon den ganzen Tag ungestüm über die Wiese gelaufen. Seine Hände steckten in den Hosentaschen. Mina wurde klar, dass der Junge der Dreh- und Angelpunkt all ihrer Bemühungen war. Sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln. »Hast du einen Namen?«
Der Junge zog einen Schmollmund. »Ja. Man nennt mich `alter Mann´.«
»Okay«, stimmte sie vorsichtig zu. »Wer nennt dich denn so?«
Er bohrte die Zehen eines Fußes ins Gras. »Na ja, mein Freund. Es gibt sonst niemand anderen. Manchmal kam jemand hier herunter, doch dann wurde Cor Keto böse und hat die Eindringlinge, wie er sie nannte, weggebracht. Niemanden habe ich hier zweimal gesehen. Vielleicht mochten sie mich auch nicht, oder ich habe ihnen Angst gemacht. Das ist auch der Grund, warum ich mich manchmal raus schleiche und heimlich die Bewohner der Festung ohne Cor Ketos Wissen beobachte.«
Mina kniete sich nieder. »Weißt du, `alter Mann´ ist kein richtiger Name. Wenn du magst, gebe ich dir einen anderen.«
Der Junge hörte mit der rastlosen Bewegung auf und blickte sie mit treuen Augen an. »Ich hatte mal eine Mutter, sie hat mir einen Namen gegeben, aber ich habe ihn so gut wie vergessen. Es ist so lange her, und Mutter war damals sehr böse auf mich!«
Mina dachte nach. »Wie wäre es mit Lyonel? Lyonel ist ein schöner Name. Ich hatte mir immer vorgestellt, dass ich, wenn ich mal einen Sohn bekommen würde, ihn so nennen würde.«
Der Junge kam ein weniger näher. Erst jetzt erkannte sie sein Gesicht genau und schrak zurück. Zwar war das Gesicht so, wie man es von einem Achtjährigen erwartete, aber seine Augen waren tiefschwarz, und in der Schwärze schwammen farbige Schlieren, genauso wie bei dem öligen Tümpel. Mina bekam eine Gänsehaut und musste sich dazu zwingen, nicht vor ihm zurückzuweichen. Trotz seiner Augen wirkte er eher ängstlich und verloren.
Sie zwang sich zu einem Schmunzeln. »Gefällt er dir? Ich meine den Namen.«
Der Junge nickte hektisch. »Oh ja! Einen eigenen Namen zu haben ist toll!« Verlegen senkte er wieder den Blick. »Ich dachte schon, du magst mich nicht, weil ich doch etwas getan habe, was du für schlecht hältst.«
»Das verstehe ich nicht, was meinst du?«
Der Junge ließ sich auf seinen Hintern plumpsen. »Na ja, ich habe deine Gedanken und Erinnerungen berührt, und daher weiß ich, was du von Cor Keto hältst. Du bist davon überzeugt, dass er keine guten Absichten hat und mich nur benutzt, um aus seinem Gefängnis zu entkommen. Aber mir hat er immer gesagt, dass er unser Zuhause gar nicht als Gefängnis sieht. Er
Weitere Kostenlose Bücher