Erbe des Drachenblutes (German Edition)
Ferne erklang erneut das laute Brüllen eines riesigen Wesens, das sich schnell näherte. Auch spürte man nun ein Vibrieren, das nur von herandonnernden Schritten einer ungemein schweren Kreatur stammen konnte. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis Cor Keto da war.
»Ich kann nicht«, flüsterte Lyonel. »Ich würde so gerne mitkommen, aber ich kann nicht! Ich kann mich nur wenige Schritte von hier entfernen.«
Die Erschütterungen nahmen zu, Steine aus der Brunnenverkleidung fielen herab.
»Bei meiner Seele, du hast den Ort hier tatsächlich nie verlassen, oder? Es tut mir so leid, was dir angetan wurde, Lyonel, aber wir müssen jetzt gehen. Wenn Cor Keto mich hier unten findet, wird er mich ohne Zögern töten. Ich weiß noch nicht, wie ich gegen ihn bestehen kann.«
Jetzt löste sich der Junge sanft von ihr. Eine kleine Hand legte sich auf ihre Wange.
»Du hast recht! Du musst gehen, sonst wird er dich zerstören. Und ich möchte dich nicht verlieren. Zwar kann meine körperliche Erscheinung nicht weit fortgehen, doch zumindest mein Geist hat die Möglichkeit zu wandern. Du musst wieder hoch in den Audienzsaal, und ich werde dich ein Stück weit begleiten!«
Mina blickte in die Finsternis. »Aber wie komme ich den Brunnen hinauf? Und wie kann Cor Keto überhaupt mit einem solch mächtigen Körper hier hereinkommen?«
Lyonel blickte schuldbewusst zu Boden. »Der Brunnen ist – ähnlich wie die Almhütte – mehr Erscheinung als Realität. Oben handelt es sich tatsächlich um einen Brunnenschacht, aber hier unten weitet sich der Fels zu einer Höhle, du hast es nur noch nicht gesehen. Ich kenne es schon gar nicht mehr anders, als die Wahrheit zu verschleiern und für den Betrachter angenehmer zu gestalten. In Wirklichkeit sitzen wir nicht am Grund eines schmalen Brunnens, sondern am Rand einer sehr großen Tropfsteinhöhle. Deshalb kann Cor Keto hierher kommen.« Er sprang auf, packte Mina an der Hand und zog sie unter die Brunnenöffnung. »Er darf dich nicht bekommen! Ich schicke dich wieder hoch, damit dir nichts passiert. Für mich ist das kein Problem. Wenn er merkt, dass du nicht mehr hier bist, wird er wieder gehen. Und mir kann er nichts tun, selbst wenn er es wollte.«
Ein Feuerschwall brach aus dem Nichts und erhellte die Umgebung. Hitze schlug Mina ins Gesicht. Tatsächlich erkannte sie für einen Augenblick das Innere einer sehr mächtigen Tropfsteinhöhle, deren Wände düster und verwinkelt waren. Das Drachenfeuer erfüllte einen Großteil von ihrer Umgebung, und fast hätte es sie selbst eingehüllt. Kurz darauf brach ein mächtiger Körper durch einen Seiteneingang der Höhle. Felsbrocken, die ihm im Weg waren, flogen durch die Luft.
»Drachentochter!«, brüllte eine donnernde Stimme. »Du elendes Ungeziefer unter meinen Füßen, wo bist du?«
Ein kräftiger, schmaler Schädel streckte sich an einem schlangengleichen, schwarz geschuppten Hals tiefer in die Höhle. Gelbe Augen funkelten bösartig in die Finsternis, und die riesigen Nüstern bebten vor Aufregung. Laut sog Cor Keto die Luft ein, schnüffelte und drehte ruckartig den Kopf in Minas Richtung. Erstickt stieß sie einen Schrei aus, da erzitterten Cor Ketos Lippen, zogen sich zurück und offenbarten zwei Reihen makelloser, leuchtend weißer Reißzähne. »Du bist hier! Ich kann dich riechen!«
Lyonel wurde ernst. Mit einem kräftigen Stoß, den man seinem kindlichen Körper nicht zugetraut hätte, schubste er Mina voran. Plötzlich zerrte etwas an ihr. Ihr blieb fast die Luft weg. Die runde Brunnenöffnung weit über ihr, die eben noch klein und fern war, wuchs zusehends, bis Mina sicher war, mit dem nächsten Herzschlag förmlich herausgeschossen zu werden.
»Nein, Lyonel!« Sie wollte helfen, wollte ihn mitnehmen, doch er blieb zurück. Zurück bei einem tobenden Raubtier. Da durchbrach Mina die Finsternis. Ihr Körper wurde weit in den Audienzsaal hineingeschleudert. Schreiend versuchte sie Halt zu finden, doch es gab nichts, was ihren Sturz verhindern konnte. Für Sekundenbruchteile erkannte sie unter sich den onyxfarbenen Thron des Monarchen. Auch glaubte sie, eine rothaarige Frau verschwinden zu sehen.
Sie hatte den obersten Punkt ihres Fluges erreicht und spürte, wie sie zu fallen begann. Da griffen ihre Instinkte ein. Sie war ein Mensch, und sie war eine Schöpfungssängerin, aber der stärkste Teil in ihr war eine Drachentochter. Wenn sie es schaffte, die Drachentochter mit der Schöpfungssängerin zu vereinen, dann
Weitere Kostenlose Bücher