Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
anderen nur wenige Zentimeter von seiner Nase entfernt aufeinander.
Das reichte. Schlagartig fand Ty zu der Konzentration zurück, die er brauchte, um das hier zu Ende zu bringen.
Mit geballter Kraft rollte Ty seinen Gegner in einer fließenden, blitzschnellen Bewegung auf den Rücken, legte ihm die Klauen um den Hals und drückte ihn zu Boden. Das war eine alte und oft angewandte Taktik, und Ty stieß ein triumphierendes Zischen aus, als der andere Vampir sofort bewegungsunfähig dalag. Ty kratzte ihm die Haut gerade so weit auf, dass es richtig wehtat, aber kein ernsthafter Schaden entstand.
Wahrscheinlich hätte er seinen Angreifer innerhalb kürzester Zeit umgebracht, wenn er nicht einen Blick auf sein Gesicht geworfen hätte. Seine Lust am Töten verwandelte sich von einer Sekunde auf die andere in tiefstes Mitleid.
»Meine Güte, Mann«, sprudelte es aus ihm heraus. »Wer hat dir das denn angetan?«
Er hatte solche Grausamkeit auch früher schon gesehen, auch wenn das bereits Jahrhunderte zurücklag. Der Vampir unter ihm war die Hülle eines Menschen, eine lebende Leiche, die bereits verweste, aber noch atmete. Wächserne Haut spannte sich über hervorstehende Knochen. Sein Schädel war nur noch an wenigen Stellen mit dünnen Haaren bedeckt. Dieser Körper fühlte sich an wie eine Hülle voller Knochen, aus der die Augen sich mit irrem Blick hervorwölbten. Seine dünnen, zurückgezogenen Lippen ließen seine gelblichen Fangzähne sehen.
Kein Vampir würde jemals so tief sinken, dass er sich freiwillig in einen vor Hunger halb wahnsinnigen Zombie verwandelte, dessen Körper auseinanderfiel, ohne dass er sterben konnte. Aber Ty hatte schon erlebt, dass Vampiren, die ihre Meister verärgert hatten, so etwas angetan wurde. Sie wurden in Verliese gesperrt, bis sie vor Hunger den Verstand verloren, und das alles nur, weil sie sich gegen die in der Welt der Nacht herrschende Ordnung aufgelehnt hatten. Dazu kamen gelegentlich Vampire niederer Klassen, die sich einfach zur falschen Zeit am falschen Ort aufgehalten hatten. Wenn man einem gelangweilten und unglaublich sadistischen Blaublut-Vampir über den Weg lief, konnte es geschehen, dass man für seine bloße Existenz bestraft wurde.
Inzwischen kam so etwas nicht mehr vor – zumindest hatte Ty das geglaubt. Aber Ausnahmen gab es offensichtlich immer noch.
»Egal«, zischte das Gespenst und schnappte nach Luft. »Ich kann dein Blut riechen, Mieze. Gib mir einen Tropfen, okay? Nur … einen Tropfen … ah, bei Luzifers Augen, das tut vielleicht weh!« Das bedauernswerte Wesen sonderte einen unerträglichen Gestank ab, aber Ty zwang sich, seine Abscheu zu verdrängen. Irgendetwas an diesem Mann und an diesem Angriff war seltsam. Und bevor er dieses Geschöpf von seinem Leid erlöste – und etwas anderes würde ihm nicht übrig bleiben –, wollte er ein paar Fragen beantwortet haben.
»Sag mir, wer dir das angetan hat, dann besorge ich dir Nahrung«, log Ty.
Der andere Vampir gab ein zischendes Lachen von sich, das einer Mischung aus Schmerz und Wahnsinn entsprang. Aber es war auch noch ein Funken Verstand in ihm. »Lüge«, erwiderte er. »Du schmierst mir nur Honig ums Maul. Er hat gesagt, dass du das tun würdest. Aber für mich ist es zu spät. Ich habe getan, was man mir aufgetragen hat. Ich bringe dich um und sauge dich aus, oder ich sterbe bei dem Versuch.« Sein Gesicht war schmerzverzerrt. »Ich gehe nicht wieder in die Dunkelheit … nicht in die Dunkelheit, nicht in die Ketten …«
Ty kniff die Augen zusammen, obwohl ihn sein Mitleid zu überwältigen drohte. Für Mitleid war in dieser Welt kein Platz. Die Starken überlebten. Die Schwachen würden immer zum Untergang verurteilt sein, und wenn man nicht aufpasste, zogen sie einen mit in den Abgrund, nur weil man einen Moment lang Mitleid mit ihnen gehabt hatte.
»Wer? Wer hat dich auf mich angesetzt?«
Der Vampir grinste hämisch, dann fing er an zu kichern. Das Kichern war fast schon ein Weinen, und er schien mehr und mehr den Verstand zu verlieren. »Nicht auf dich, du Idiot. Dumme, dumme Mieze. Aber ich habe dich prima abgelenkt, nicht wahr? Keine dunklen Verliese mehr für mich, nie mehr Hunger. Dumm, dumm, dumm, das hübsche Ding soooo allein zu lassen …«
Ty schnappte nach Luft. Lily. So eine plumpe Falle, und er war prompt hineingetappt. Aber wie hätte er übersehen sollen, dass er beobachtet wurde? So etwas spürte er immer. Andererseits hatte er sich auch noch nie um eine Frau so
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