Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
sie. Sie spürte, wie die Panik erneut mit eisigen Klauen nach ihr griff. Endlich hatte sie den Schlüssel erwischt, der ins Schloss passte. Gleich wurde sie wieder deutlich ruhiger. Hier herrschte Normalität. Hier war sie relativ sicher. Rasch stolperte sie in den hell erleuchteten Flur, schlug die Tür hinter sich zu und schob den Riegel vor.
Ich bin zu Hause. Ich bin in Sicherheit. Ich bin zu Hause.
Sie drehte sich um, ließ die Umhängetasche neben die Garderobe fallen und schloss einen Moment die Augen. Sie musste sich erst einmal wieder fangen, musste den Horror abschütteln, jetzt, wo sie in ihrer vertrauten Umgebung war.
»Mir geht es gut«, sagte sie laut, aber ihre Stimme klang dünn und zittrig. »Jetzt ist alles in Ordnung«, fuhr sie, schon mit etwas festerer Stimme, fort. Dann öffnete sie die Augen, straffte die Schultern und ging auf den Türbogen zu, durch den man in das Wohnzimmer mit der offenen Küche gelangte. Es beruhigte sie, ihre Schritte auf dem Holzboden zu hören.
Mit der Rückkehr der Normalität verwandelte sich ihre Angst in Wut.
Zum Teufel mit diesem Schwachsinn , dachte sie, und allmählich beschlichen sie Zweifel, was sie dort auf dem Parkplatz wirklich gesehen hatte. Sie war nicht das typische Opfer. Sie musste sich nur überlegen, wie sie jetzt vorgehen wollte. Das Logischste wäre, die Polizei anzurufen. Sie würde doch nicht einfach hier herumsitzen und darauf warten, dass irgendetwas Schreckliches passierte, wenn das nächste Polizeirevier keine zwei Meilen entfernt war. Tynan war ein Stalker, da war sie sich ganz sicher. Alles andere … nun ja, es war möglich, eher schon wahrscheinlich, dass alles nur ein Versuch gewesen war, sie einzuschüchtern. Schließlich hatte sie dort auf dem Parkplatz niemanden sonst gesehen. Und was die funkelnden Augen und die Fangzähne anging – nun, jeder, der klug genug war und geistesgestört genug dazu, konnte solche Effekte problemlos erzielen.
Lily fühlte sich so gedemütigt, dass ihr Magen in Aufruhr geriet.
»Meine Güte, bin ich eine Idiotin«, murmelte sie. Sie war wirklich leichte Beute gewesen.
Sie tastete nach dem Lichtschalter, doch kaum wurde es hell im Zimmer, wünschte sie, sie wäre direkt zum Polizeirevier gefahren.
Aber dafür war es jetzt eindeutig zu spät.
Auf einem Stuhl an ihrem kleinen Küchentisch saß ein Mann und betrachtete sie gedankenverloren. Das blasse, gut aussehende Gesicht hätte ein Bild unschuldiger Freundlichkeit abgegeben, wäre da nicht der Hunger in seinen Augen gewesen, deren Farbe dauernd zwischen Rot und Blau wechselte.
»Sie gehen ganz schön streng mit sich ins Gericht, finden Sie nicht auch?«, sagte der Mann mit angenehm kultivierter Stimme, die gut zu seiner eleganten Erscheinung passte. Makellos gebügelte Khakihose und Button-Down-Hemd, glänzende Schuhe. Jedes Haar lag an seinem Platz. Sein Fuß ruhte locker auf dem Knie des anderen Beins, und die Hände, blass wie sein Gesicht, hielt er vornehm im Schoß gefaltet. Über der Rückenlehne eines der anderen Stühle hing ordentlich zusammengelegt ein schwarzer Wollmantel. Er hätte direkt von einer geschäftlichen Besprechung kommen können.
Abgesehen davon, dass er etwas außerordentlich Furcht einflößendes an sich hatte.
Als Lily, deren Mund und Kehle schlagartig wie ausgetrocknet waren, ihn nur sprachlos anstarrte, seufzte er laut auf.
»Nicht mal ein Hallo? Nun ja. Sie sind vielleicht keine Idiotin, aber schlechte Umgangsformen haben Sie auf jeden Fall.«
Sein Blick jagte ihr einen Schauder über den Rücken. In diesen Augen lag nicht eine Spur von Gefühl, nur tödliche Kälte. Das waren die Augen eines Mörders.
»Lily Quinn, ich fürchte, Sie stecken in Schwierigkeiten.«
»Wer sind Sie?«, brachte Lily schließlich mühsam heraus. »Ich kenne Sie alle nicht, aber ich weiß, dass ich nichts getan habe. Ich glaube, Sie haben die Verkehrte erwischt.«
Der Mann kicherte leise. »Sie alle? Schau an, schau an. Hat das verwöhnte Schoßhündchen der Königin also doch endlich beschlossen, sich Ihnen zu zeigen und Ihnen schönzutun? Das überrascht mich. Soziale Kontakte waren nie Tynans Stärke.« Er musterte sie von oben bis unten. »Wobei ich mir gut vorstellen kann, warum er es sich anders überlegt hat. Allerdings will er natürlich etwas von Ihnen. Unsere Art gibt sich nur selten mit Ihrer ab, außer wir wollen etwas.«
Wieder lief Lily ein Schauder über den Rücken. Sie hätte nicht sagen können, warum, aber dieser
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