Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
viele Gedanken gemacht, dachte er mit einem Anflug von Schuldgefühl. Und ausgerechnet dieses eine Mal konnte ihn unendlich viel kosten. Aber so war das schon immer gewesen in seinem armseligen Leben.
Ty musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um nicht wie der Blitz davonzuschießen und dem hinterherzujagen, was da hinter Lily her war. Zweifellos würde er oder sie ein sehr viel ernster zu nehmender Gegner sein als dieser armselige Lockvogel. Aber etwas, das man nicht zu Ende brachte, konnte einem wieder in die Quere kommen. Er packte den dünnen Nacken des Vampirs noch fester und riss ihm den Kragen seines schon halb zerfallenen Hemds herunter. Dunkel hob sich das Mal von der bleichen, wächsernen Haut ab. Tys Verdacht erwies sich als richtig.
Die Shades stellten keine eigene Dynastie dar. Menschen hätten sie eine Bande genannt, aber ein Vampir hätte das als eine sehr ungenügende Beschreibung empfunden. Die Shades kamen zwar aus allen Schichten der Unterwelt, vorwiegend allerdings aus der Unterschicht, und waren Spezialisten für alles Illegale. Sie waren die Aristokratie der Diebe und Mörder und wurden sogar von den blaublütigen Vampiren gefürchtet und respektiert. Dieser hier schien ein bisschen von so ziemlich jeder Unterschichtsdynastie in sich zu haben, und diese Mischung spiegelte sich auch in dem auffallend komplizierten Mal wider. Daneben, klein und trügerisch einfach, war die verräterische Tätowierung, die man bei der Aufnahme in die Dynastie der Shades bekam, ein kleiner, schwarzer aufgehender Mond. Nicht Abstammung erzeugte das Mal eines Shade, und dennoch konnte nur der Tod es auslöschen.
Eine Stimme aus längst vergangenen Zeiten flüsterte in seinem Kopf: Wir sind alle Mörder, Ty. Warum kommst du nicht zu uns, dann wirst du fürs Morden wenigstens geachtet. Nur so kann eine Katze wie ein König leben.
Er schob den Gedanken beiseite und verschloss ihn in einer Schublade ganz hinten in seinem Kopf, denn nur dort gehörte er hin. Wie enttäuscht der Grünschnabel von einem Vampir, der dieses Angebot damals zurückgewiesen hatte, wohl wäre, wenn er sähe, was aus Ty geworden war – nicht viel anderes, als er damals abgelehnt hatte, nur ohne den, wenn auch trügerischen, Schein von Achtung.
»Du musst deine Meister ja nachhaltig verärgert haben, wenn du so bestraft worden bist«, sagte Ty laut. »Und irgendjemand mit viel Einfluss muss sie angeheuert haben – Mord ist im Haus der Schatten immer noch die teuerste Dienstleistung, nicht wahr?«
Er erwartete keine Antwort, und er bekam auch keine. Egal, wie nah dieser Vampir dem Tod bereits sein mochte, er würde nicht reden. Das taten sie so gut wie nie. Verdammte Shades.
»Ganz ruhig, Bruder«, sagte Ty, als sich der andere Vampir unter ihm herauszuwinden versuchte und einen letzten Versuch startete, doch noch die Oberhand zu gewinnen. Vielleicht wollte er Ty aber auch nur dazu bringen, dem Kampf ein Ende zu setzen. Falls das sein Wunsch war, wurde er ihm umgehend erfüllt. Rasch hieb Ty dem Vampir mit dem Messer, das er von seinem ersten Leben in dieses hinübergerettet hatte, den Kopf ab.
Als der zerfallende Körper Sekunden später in Flammen aufging, war Ty schon nur noch ein schwarzer Blitz in der Nacht. Er betete zu einem Gott, an den er längst nicht mehr glaubte, dass er nicht zu spät kommen möge.
Lily bog in ihre Einfahrt, ohne sich erinnern zu können, wie sie es bis hierher geschafft hatte. Die Fahrt war wie eine Szene aus einem Albtraum gewesen. Ihr Körper hatte den Wagen gesteuert, als hätte sie ihn auf Autopilot gestellt, während sie selbst die ganze Zeit nur Tys funkelnde Augen und glänzende Fangzähne vor sich gesehen und seine unwirkliche Stimme »Fahr!« hatte rufen hören.
Ein paarmal wäre sie beinahe von ihrem Nachhauseweg abgewichen, weil sie überallhin wollte, nur nicht dorthin, wohin er sie geschickt hatte. Aber Tys Drohung, sie sei schuld, wenn anderen etwas zustoßen würde, hielt sie letztlich davon ab. Sie würde niemanden leichtfertig in Gefahr bringen.
Was nicht hieß, dass sie nicht am liebsten davongelaufen wäre … nur wusste sie nicht so recht, wohin.
Lily stieg aus dem Wagen. Sie zitterte wie Espenlaub. Dennoch schaffte sie es irgendwie bis zur Haustür, wo sie kostbare Sekunden damit vergeudete, den richtigen Schlüssel zu suchen. Auf der Straße war weit und breit niemand zu sehen, und natürlich hatte sie vergessen, das Verandalicht einzuschalten. Mal wieder.
»Komm schon«, murmelte
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