Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
alle Tage über den Weg. Dennoch, es lässt sich davon leben. Wenn ich das mal so nennen darf.«
»Was sind Sie?«, fragte Lily mit rauer Stimme. Ihr gesunder Menschenverstand rebellierte gegen das, was ihre Augen sahen: die roten Augen, die Fangzähne, die blasse, makellose Haut.
Sein Mund verzog sich zu einem verächtlichen Lächeln. »Meine liebe Lily, ich bitte Sie. Das ist doch nicht so schwer zu begreifen, selbst wenn Sie es nicht glauben wollen. Würde es Ihnen helfen, wenn ich mit einem rumänischen Akzent sprechen würde? Nicht dass Ihnen diese Erkenntnis etwas nützen würde, wenn ich Sie aussauge, aber ich versuche entgegenkommend zu sein, wo immer ich kann.«
Mit einer anmutigen Bewegung, auf die Lily so nicht gefasst gewesen war, stand er auf. Entsetzt wich sie einen Schritt zurück. Die Angst schnürte ihr die Kehle zu. Das hier passierte wirklich. Sie würde gleich angegriffen werden, und zwar von einem … Vampir. Und Tynan – falls der wirklich jemals vorgehabt hatte, ihr zu helfen – war nirgendwo zu sehen.
»Ich will nicht sterben. Bitte. Ich gebe Ihnen, was immer Sie wollen. Ich muss doch irgendwas tun können!« Sie hörte selbst, wie verzweifelt sie klang. Sie bettelte um ihr Leben, und gleich würde sie auch zu schreien anfangen.
Und das war genau, was dieser Kerl wollte.
Wieder kicherte er, und dieses Kichern tat Lily in den Ohren weh.
»Sterben ist einfach«, sagte er und kam auf sie zu. »Nichts Besonderes. Aber wenn Sie davonlaufen möchten, bitte. Es ist so langweilig, wenn der Partner einfach nur daliegt, nicht wahr?«
Auf einen Schlag begriff jede einzelne von Lilys Körperzellen, was bevorstand. Stehen bleiben bedeutete den sicheren Tod. Weglaufen vermutlich auch, aber sie musste es wenigstens versuchen. Sie wirbelte herum und stürzte durch den Flur auf die Haustür zu. Ihre Füße schienen kaum den Boden zu berühren.
So schnell hatte sie sich noch nie im Leben bewegt. Dennoch schienen die Sekunden wie in Zeitlupe zu vergehen. Hinter sich hörte sie ihn lauthals lachen.
Er spielte mit ihr. Sie war nur ein Mensch, kein ernstzunehmender Gegner für jemanden, der vermutlich über ungeahnte Kräfte und Schnelligkeit verfügte. Trotzdem – Lily schaffte es zur Tür. Ihre gesamte Aufmerksamkeit war jetzt auf den Türriegel gerichtet, den sie zurückschieben, und auf den Türknauf, den sie drehen musste. Sie konzentrierte sich so sehr auf diese beiden Dinge, dass nichts anderes mehr zu existieren schien. Ein seltsames Gefühl hatte von ihr Besitz ergriffen, das nichts mit Angst zu tun hatte. Es war etwas Elektrisierendes, ähnlich der Spannung, die in der Luft liegt, kurz bevor ein Sturm losbricht.
Dieses Gefühl kam ihr bekannt vor, und sie erinnerte sich auch, was sie damit tun musste. Fetzen dieser Erinnerung waren noch lebendig in ihr, weggesperrt in der dunkelsten Ecke ihres Hinterkopfs. Wenn sie dieses Gefühl wieder zum Leben erwecken und die Tür dazu bringen könnte, sich zu öffnen …
In dem Moment, als Lily gerade ihrer geballten Energie den nötigen – wenn auch gefürchteten – letzten Schubs geben wollte, passierten gleich mehrere Dinge gleichzeitig. Was vorher wie in grauschwarzer Zeitlupe abgelaufen war, verwandelte sich plötzlich in einen farbenprächtigen Schnelldurchlauf. Die Haustür flog auf, dass sie fast aus den Angeln gerissen wurde. Etwas Großes, Schwarzes, das gespenstisch aufheulte, kam aus der Dunkelheit hereingestürmt. Eine Hand packte ihr Haar und riss sie so heftig nach hinten, dass ihre Zähne schmerzhaft aufeinanderschlugen. Ihr T-Shirt wurde vorne auseinandergerissen, und jetzt lagen nicht nur ihr Hals und ihre Brust frei, an denen sich ihr Angreifer sogleich zu schaffen machte, sondern auch etwas anderes … etwas, das sie schon in früher Kindheit um jeden Preis zu verbergen gelernt hatte und das jetzt an ihrem zarten Schlüsselbein hell aufloderte.
Ihr Angreifer riss die Augen weit auf, als er die seltsame Tätowierung entdeckte, das Mal, das noch aus einer Zeit stammte, an die sie keine Erinnerung mehr hatte, noch bevor man ihr ihre Eltern genommen und sie der Gnade von Fremden überlassen hatte. Lily sah, wie ihr Angreifer entsetzt das Gesicht verzog und mit einem Zischen die Zähne bleckte, sodass seine messerscharfen Schneidezähne zum Vorschein kamen.
Wie im Traum hörte sie Tynans Stimme.
»Damien! Lily, nicht –«
Aber sie konnte nicht stoppen. Lilys ganze Konzentration, die gesamte Kraft, die sie mobilisiert hatte,
Weitere Kostenlose Bücher