Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
verdrehte den Hals, um ja möglichst viel mitzubekommen. Das Viertel war ein bisschen schäbig, aber faszinierend, und obwohl es ein Abend mitten in der Woche war, waren die Straßen voll mit den Bewohnern der Unterwelt. Ab und zu waren auch ein paar normale Leute wie sie unterwegs, aber es waren nicht viele, und sie fielen auf wie bunte Hunde. Ob sie wohl wussten, zwischen wem sie da herumliefen? Und ob sie das überhaupt interessierte?
»Hmm?«, fragte Ty abwesend. Er schien nach etwas Ausschau zu halten, und als Lily genauer hinsah, stellte sie fest, dass er die Gegend auch zu beschnuppern schien. Merkwürdig, aber … irgendwie auch cool, beschloss sie. Sie würde sich viel lieber in eine Katze verwandeln können, als die Fähigkeit zu haben, Möbel durchs Zimmer fliegen zu lassen.
»Ich wusste es nicht«, wiederholte Lily. Als er sie verständnislos anstarrte, wurde ihr klar, dass er kein Wort von dem gehört hatte, was sie gesagt hatte. Er blieb stehen und runzelte die Stirn, als würde sie in einer fremden Sprache sprechen. Lily seufzte, sah sich um, ob auch niemand zuhörte, dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen und flüsterte ihm ins Ohr: »All diese Vampire! Ich wusste gar nicht, dass es so viele gibt!«
Als sie auf die Fersen zurückwippte, schien Ty endlich zu verstehen, was sie meinte, und ein Lächeln huschte über sein ernstes Gesicht.
»Menschen haben wirklich seltsame Vorstellungen«, sagte er. Er war weitergegangen, wenn auch nicht mehr ganz so schnell. »Das sind keine Vampire. Ich fürchte, das sind alles Sterbliche.«
Lily sah ihn stirnrunzelnd an. »Und wo sind dann die Vampire?«
»Die kümmern sich unauffällig um ihre eigenen Angelegenheiten. Vermutlich halten sie ab und zu mal inne, um sich über das Spektakel um sie herum zu amüsieren. Das Mabon gab es schon, bevor diese Leute hier auftauchten, aber vermutlich trägt es ein bisschen zur Atmosphäre bei.« Er ließ den Blick schweifen und schnaubte. »Idioten, allesamt. Sie spüren uns. Sie wollen, was wir haben. Sie haben keine Ahnung, auf was sie sich da einlassen.«
Sie kamen an einer Gruppe Mädchen im College-Alter vorbei. Sie sahen düster und gleichzeitig zauberhaft aus und machten den Eindruck, als würden sie mit Vergnügen das Herz jedes Manns verschlingen, der ihnen über den Weg lief. Ty schien das nicht zu beeindrucken, aber Lily verspürte einen Anflug von Neid, als sie ihnen hinterhersah. Sie stellte sich vor, wie trist sie im Vergleich zu ihnen wirken musste. Sie hätte schon immer gern genügend Selbstvertrauen gehabt, sich einfach auszuleben. Stattdessen war sie zu einer stillen Beobachterin geworden, die ihre Geheimnisse für sich behielt und nicht zeigte, wer sie war. Immer hatte sie nur versucht, nicht aufzufallen.
»Du bist hübscher«, sagte Ty, und erst jetzt wurde ihr bewusst, dass er sie beobachtete und ihr jede Gefühlsregung vom Gesicht ablas.
Lily starrte ihn erschrocken an und sah dann nervös weg. »Du hast doch gesagt, du kannst meine Gedanken nicht lesen.«
»Kann ich auch nicht. Das steht alles in deinem Gesicht geschrieben.«
Verdammt.
»Das ist unwichtig«, erwiderte Lily. »Ich komme mir nur irgendwie komisch vor. Wie … wie die Oberlehrerin aus der Provinz, die Wes Cravens Fantasie einen Besuch abstattet. Ich komme mir so lächerlich vor, wenn ich hier rumlaufe.«
Ty führte sie um eine Ecke und ließ sie dabei nicht aus den Augen. »Meiner Erfahrung nach liegen die leckersten Happen unter ein paar Schichten verborgen. Mach dir nicht so viele Sorgen. Königin Spinnennetz da drüben besteht nur aus Schichten, und glaub mir, sie würde grauenhaft schmecken.«
Er verzog angeekelt das Gesicht, und sie musste lachen.
Doch dann wurde ihr auf einmal bewusst, dass er sie in eine dunkle Seitengasse gelenkt hatte. Sie versuchte, ihn dazu zu bringen, etwas langsamer zu gehen, aber das klappte genauso wenig wie am Abend zuvor – also gar nicht. Ihr Herz begann zu rasen. Sie waren hier, wie ihr jetzt siedend heiß wieder einfiel, weil sie weitere Vampire treffen wollten. Nur hatte sie nicht damit gerechnet, dass es schon so schnell so weit sein würde.
Nie wäre ihr am liebsten gewesen, aber dafür war es zu spät.
Etwa in der Mitte der Gasse, die in völliger Dunkelheit lag, blieb Ty stehen und drehte sich zu ihr. Lily sah, wie angespannt er war, und sofort schoss ihr Adrenalinspiegel in ungeahnte Höhen.
»Was ist los? Ist es etwa Damien? Hat man uns verfolgt?« Ihre Stimme zitterte, und
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