Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
erwiderte er. »Du hast ziemlich lange geschlafen. Ich hätte dich geweckt, bevor ich mich schlafen gelegt hätte, um dir zu sagen, wo wir sind und wo du dich tagsüber am besten aufhalten kannst. Aber du hast geschrien, und ich habe mir … ich dachte, vermutlich hättest du jetzt lange genug geschlafen. Du musst dich wirklich daran gewöhnen, zur gleichen Zeit zu schlafen wie wir.«
Er machte sich Sorgen um sie. Lily fand das einerseits süß, andererseits aber auch schwer zu glauben. Schließlich war dies derselbe Mann, der sie festgebunden hatte, damit sie nicht weglief, obwohl sie versprochen hatte, sich nicht von der Stelle zu rühren. Aber sein nervöser Gesichtsausdruck und die Art, wie er plötzlich vermied, sie anzusehen, ließen sein Fast-Geständnis beinahe schon echt wirken. Das gefiel ihr, gleichzeitig fühlte sie sich dabei aber auch unwohl.
»Nur ein schlechter Traum«, sagte sie leise. »Weiter nichts.«
»Wovon träumst du, Lily? Für jemanden, der, wie es scheint, ein eher beschauliches Leben führt, hast du eine Menge Albträume.«
Lily runzelte die Stirn. Jetzt, wo sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, merkte sie, dass durch die hohen Fenster etwas Licht von draußen hereindrang. Auch konnte sie Ty jetzt deutlich besser erkennen. Er schaute wirklich besorgt aus. Schon wieder eine Überraschung.
Plötzlich sah sie wieder die grünen kummervollen Augen vor sich, und die Frau, die den Dolch hob, um diese Augen für immer zum Erlöschen zu bringen. Sie wusste genau, dass es sich nicht um gewöhnliche Albträume handelte. Aber sie wusste nicht, was sie mit ihnen anfangen sollte, was sie bedeuteten. Und auf keinen Fall würde sie Ty davon erzählen, der sich zwar Mühe gab, die Bedeutung ihres Mals herauszufinden, ansonsten aber nicht gerade ihre Interessen vertrat. Er hatte eigene Pläne.
Spreng seine Ketten, befreie unser Blut. Was sollte sie damit anfangen? Fast wünschte sie sich, die Frau hätte nicht zu ihr gesprochen. Bis jetzt hatte Lily den Traum wenigstens immer als eine Art symbolische Vision abtun können. Allerdings hatte die Tatsache, dass sie von einem waschechten Vampir entführt worden war, den »symbolischen« Teil ihrer Interpretation quasi im Handumdrehen null und nichtig gemacht.
»Lily?«, wiederholte er.
Sie wusste, dass sie sich die Besorgnis in seiner Stimme nicht einbildete. Aber das musste sie einfach ausblenden. Wenn sie anfangen würde zu glauben, dass er sich wirklich Gedanken um sie machte, würde sie nicht mehr klar denken können. Anziehung – gut und schön, aber weiter durfte es nicht gehen. Er würde sie nur verletzen. Lily zwang sich, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.
»Woher weißt du, dass ich zu Albträumen neige?«, fragte sie, schüttelte jedoch sogleich den Kopf, um Ty am Antworten zu hindern. »Nein, lass nur. Ich nehme an, die Antwort würde mir nur wieder beweisen, dass du unheimlich bist und mich die ganze Zeit verfolgt hast. Ich will es lieber gar nicht wissen.«
»Da könntest du recht haben. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage.«
Lily stellte sich vor, wie Ty sie beobachtete, während sie schlief, und allein bei dem Gedanken daran überlief sie eine Hitzewelle, die nichts mit der Temperatur in der Wohnung zu tun hatte.
»Ich bin nur … ich weiß auch nicht. Ich habe eben Albträume. Vielleicht kommt es daher, dass ich als Baby meine Eltern verloren habe. Ich kann mich nicht an sie erinnern, aber ich nehme an, dass ich dabei war, als ihnen das zustieß, woran sie gestorben sind – was immer das gewesen sein mag. Ein Teil der Albträume kommt sicher daher.« Das war natürlich Blödsinn, aber als sie noch jünger gewesen war, hatte sie das für die wahrscheinlichste Erklärung gehalten. Vielleicht würde Ty ihr diese Theorie ja abkaufen.
»Ah. Sehr analytisch gedacht«, erwiderte Ty.
Vielleicht auch nicht.
Widerstrebend nahm er die Hände von ihren Schultern, ließ sie dabei jedoch noch flüchtig über ihre Arme gleiten. Er saß ganz dicht neben ihr auf dem Sofa, seine Hüfte berührte ihre, und es war, als würde – ausgehend von diesem Kontakt – ihr gesamter Körper vibrieren.
Immerhin lenkte sie das von dem ab, worüber Ty reden und was sie ihn auf keinen Fall wissen lassen wollte. Andererseits war diese Ablenkung auch nicht ganz gefahrlos.
»Ja, ich stecke voller tiefschürfender Gedanken«, sagte Lily trocken. Sie strich sich das Haar aus dem Gesicht und unterdrückte ein Gähnen. Plötzlich fiel ihr
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