Erben des Blutes 01 – Dunkler Fluch
entglitten ihrem Willen, und sie wusste nicht, warum.
Aber wohin auch immer es sie in ihrem Kraftrausch verschlagen hatte, Tys Stimme hatte sie zurückgeholt.
»Heilige Mutter Gottes, gute Frau«, hörte sie Jaden sagen. »Was ist bloß in dich gefahren?«
Sie öffnete den Mund, aber es kam kein Wort heraus. Was hätte sie auch sagen sollen? Langsam und unwillig drehte sie sich zu Ty um. Er sah sie mit unbewegter Miene an, aber sie wusste genau, dass er sie bei erstbester Gelegenheit bei Arsinöe abliefern und sich aus dem Staub machen würde. Genau wie das bisher jeder getan hatte, der einmal eine ihrer »Episoden« miterlebt hatte.
Sie konnte es niemandem verübeln. Aber das machte die Sache auch nicht einfacher.
»Lily«, murmelte er. »Was ist passiert?«
Allmählich wurde ihr die Tragweite dessen, was geschehen war, vollends klar. Vor ihren Augen begann alles zu verschwimmen. Die Kraft war ein unglaubliches Hochgefühl, ihr Nachlassen allerdings die Hölle. Sie schwankte, wagte es aber nicht, sich an Ty festzuhalten. Sie wusste, dass er sie nicht mehr würde anfassen wollen.
»Die rothaarige Frau aus meinen Träumen«, flüsterte Lily, die sich Mühe geben musste, nicht zu lallen. »Die Priesterin oder was immer sie war.«
Ty zog die Stirn in Falten. »Priesterin?«
Lily schüttelte den Kopf, bereute es aber sofort, denn bei der Bewegung wurde ihr gleich noch schwindeliger. Himmel, so schlimm war es noch nie gewesen. Aber sie hatte auch noch nie mit so viel Kraft um sich geschleudert. »Vampirpriesterin. Ich weiß es nicht. Ich konnte sie in meinem Kopf hören. Und dann war ich nicht mehr ich.«
Lily konnte es kaum fassen, als sie Tys Hände spürte, nahm allerdings an, dass er sie nur stützen wollte. Sie verlor rasch an Kraft. Zu viel davon hatte sie eingesetzt, und jetzt blieb ihr kaum noch Energie übrig.
Mist.
»Wer ist diese Frau, Lily? Wovon redest du? Was hast du gesehen?« Er klang fast schon verzweifelt, aber es gab nicht viel, was sie ihm hätte sagen können, und erklären konnte sie noch viel weniger. Außerdem glitt sie immer mehr der warmen, sie willkommen heißenden Dunkelheit entgegen. Für Smalltalk blieb ihr keine Zeit mehr.
»Sie herrscht über das Haus der Mutter«, sagte Lily und sah, wie sich Tys Gesichtsausdruck schlagartig veränderte. »Aber sie ist vor langer Zeit gestorben. Ihre Leute wurden bestialisch ermordet. Und sie sagt, ich sei die Einzige, die noch übrig ist. Ich habe ihr Blut in mir. Irgendwie …«
Ty starrte sie fassungslos an. Aber damit konnte Lily sich jetzt nicht auseinandersetzen.
»Das ist unmöglich«, sagte Ty.
»Ja, das ist es«, stimmte Lily ihm zu. Sie spürte, wie ihre Beine unter ihr nachgaben, und war erleichtert, dass sie dem Ganzen gleich würde entfliehen können, wenn auch nur für eine gewisse Zeit. »Aber du musst mich auffangen, auch wenn du gerade versuchst, das zu begreifen, okay?«
Sie spürte noch, wie er sie fest in die Arme nahm, dann verlor sie das Bewusstsein.
17
Lily hatte keine Ahnung, wie lange sie geschlafen hatte. Sie wusste nur, dass sie in einem bequemen Bett lag und ihr angenehm warm war.
Langsam öffnete sie die Augen. Das Zimmer war ihr unbekannt. Es war klein und ordentlich und wurde von einer einzelnen, flackernden Kerze erleuchtet, die fast völlig heruntergebrannt war. Die Schuhe waren ihr ausgezogen worden, ansonsten war sie vollständig bekleidet. Irgendjemand hatte sorgfältig eine weiche, ausgeblichene Decke über sie gebreitet. Und die Wärme stammte von einer riesigen schwarzen Katze, die eng an sie gekuschelt neben ihr lag.
Ty. Sie wusste sofort, dass er es war. Er schlief, wie sie an seinen tiefen, gleichmäßigen Atemzügen feststellen konnte. Lily nahm an, dass es bereits Tag war, bewegte sich aber trotzdem sehr vorsichtig, um ihn nicht zu stören.
Das war also die Gestalt, die ihn zu einem Vampiraußenseiter machte. Lily war fasziniert, dass dieses Tier, das da neben ihr lag, der Mann sein sollte, mit dem sie die vergangene Woche verbracht hatte. In ihrer Gegenwart hatte er noch nie die Gestalt gewechselt, allerdings wusste sie nicht, ob er das nicht vielleicht tat, wenn er auf Nahrungssuche ging. So wie jetzt hatte sie ihn nur einmal gesehen, und das war nur ein flüchtiger Eindruck gewesen.
Eins aber stand fest: Genauso wenig, wie man ihn jemals für einen gewöhnlichen Mann halten würde, würde man ihn mit einer Hauskatze verwechseln.
Er war groß, etwa halb so groß wie sie, und schlank.
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