Erben des Blutes: Verborgene Träume (German Edition)
bereits gewöhnt war: die längliche, niedrige Frisierkommode, der einfache Nachttisch mit der Lampe und die ramponierte alte Truhe am Fuß des massiven Doppelbetts, das ihr Zufluchtsort gewesen war.
Dann richtete sie den Blick nach unten, zu der Gestalt am Boden. Jaden schlief völlig ruhig, auf einer Matratzenauflage aus Daunen, die von zwei nervös wirkenden Vampiren herbeigeschleppt worden war. Sie konnte sich noch vage erinnern, dass sie ihnen aus ihrem Versteck unter den Decken schläfrig zugeschaut hatte. Jaden hatte sich zusammengerollt, der Kopf mit den zerzausten Haaren ruhte auf seinem Arm, der andere Arm lag an seiner Brust. Lyra lauschte seinem regelmäßigen Atem, der gelegentlich von einem leisen Schnarchton begleitet wurde.
Jaden.
Mit einem Schlag waren all die Gefühle, die sie begraben hatte, wieder da, und diesmal drängte Lyra sie nicht weg. Bilder tauchten vor ihrem geistigen Auge auf, wie er auf sie aufgepasst, für sie gesorgt, sich um sie gekümmert hatte. Ihr seine Liebe gezeigt hatte.
Er liebte sie. Obwohl sie ihn weder ermutigt noch sich erkenntlich gezeigt hatte, war er bei ihr geblieben. Und die Gefühle, die das bei ihr auslöste, füllten sie an, bis sie meinte, platzen zu müssen. Diese Gefühle waren schmerzhaft und schön zugleich. Sie hätte sich niemals träumen lassen, dass ausgerechnet er in dieser dunklen Zeit ihr Licht sein würde. Und doch war es so.
Behutsam schwang sie die Beine über die Bettkante. Ihr Körper fühlte sich seltsam an, wie eingerostet. Sie setzte die Füße auf den dicken Orientteppich und stand auf. Leicht schwankend lauschte sie in die Dunkelheit. Nichts rührte sich. Lyra beschloss, dass es keine Rolle spielte, wie spät es war, ihr blieb auf jeden Fall genug Zeit, ihre Pläne in die Tat umzusetzen.
Sie hatte genug getrauert. Und zu wissen, dass es in ihrem neuen Leben jemanden gab, der ihr zur Seite stand, war durchaus eine erregende Vorstellung.
Was auch immer sie jenseits der rauchenden Ruinen ihres alten Lebens erwartete – sie würde nicht allein damit fertig werden müssen.
Endlich wusste sie, was sie wollte. Und da sie sich nie etwas leicht machte, hatte sie erst durch die Hölle gehen müssen, um zu begreifen, dass sie das Richtige schon seit Wochen vor Augen – beziehungsweise im Keller – gehabt hatte. Er war der Einzige, der sie je so akzeptiert hatte, wie sie war, der ihre Träume ernst genommen und nie an ihren Fähigkeiten gezweifelt hatte, diese Träume Wirklichkeit werden zu lassen. Und als Dank hatte sie ihn von sich gestoßen, war vor ihm davongelaufen und hatte sich eingeredet, sie könne ihn einfach gehen lassen. Er hatte unendlich viel Geduld aufgebracht. Was war sie für ein Dummkopf gewesen! Aber sie würde alle Zeit der Welt haben, um es wiedergutzumachen. Sie würde Jaden das einzige Geschenk geben, das sie ihm geben konnte.
Um noch mal vor vorn anzufangen. Mit ihm.
Als Jaden wach wurde, war das Zimmer leer. Aus der Ferne drang Gelächter an seine Ohren. Irgendetwas an dem Lachen war angenehm vertraut. Noch halb im Schlaf lauschte er einen Moment, streckte sich träge und gönnte sich noch ein wenig mehr Zeit, um richtig wach zu werden.
Dann wurde ihm plötzlich klar, wieso ihm das Lachen so vertraut vorkam.
Lyra.
Er sprang aus dem Bett und rannte auf den Flur. Der Flur war leer, aber jetzt konnte er von unten deutlich Stimmen hören. Wie es klang, war Lyra unten bei Lily, und die beiden verstanden sich prächtig. Das Gefühl der Erleichterung, das ihn durchflutete, war so intensiv, dass ihm fast die Beine eingeknickt wären. Er hatte schon geglaubt, dass die Lyra, die er gekannt hatte, für immer fort war, ersetzt durch eine leere Hülle, die nur noch ziellos dahindriftete.
Er hätte wissen müssen, dass sie dafür viel zu stark war. Aber was sie durchgemacht hatte, war mehr, als den meisten je widerfuhr, und selbst starke Persönlichkeiten wären mit so etwas nicht so leicht fertig geworden. Ihm war es immerhin gelungen, nach seiner Verwandlung den Kontakt mit seiner Familie aufrechtzuerhalten – zumindest halbwegs. Sie zu verlieren, war hart gewesen, mit das Härteste, was er in seinem langen Leben durchgemacht hatte, aber wenigstens hatte er bis zum Schluss gewusst, dass er ihnen wichtig war.
Lyra würde lernen, mit ihrer Verstoßung zu leben. Und er schwor sich, dass er ihr helfen würde, ob sie das nun wollte oder nicht. Ihr Mal bedeutete ihm eine Menge, selbst wenn es für sie nie mehr als eine unselige
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