Erben des Blutes: Verborgene Träume (German Edition)
dachte dafür umso mehr, auch wenn ihre Gefühle wohl für sie beide mit einer Enttäuschung enden würden. Bei der Aussicht, dass er sich aus dem Staub machen könnte, wirkte sie so verletzlich, wie er sie noch nie erlebt hatte. Er fragte sich, ob sie den Kuss bereits bedauerte. Glaubte sie etwa, er hätte eine Art Vampirpest in die heilige Stätte ihres Rudels eingeschleppt?
Und wenn … hatte sie recht?
»Kommst du wieder?«, fragte sie. Eine einfache Frage. Eine einfache, bedeutungsschwangere Frage. Sie versuchte, unbeeindruckt zu klingen, doch die Risse, die er in ihre Rüstung geschlagen hatte, waren nicht zu übersehen.
»Ich bin vor Sonnenaufgang zurück. Ich muss … ein paar Dinge erledigen. Mach dir keine Sorgen«, fügte er hinzu und lächelte ein wenig, in der Hoffnung, dadurch die Lyra wieder zum Leben zu erwecken, mit der er umgehen konnte. Diesmal hatte er etwas begonnen, von dem er keine Ahnung hatte, wie es enden würde.
»Ganz bestimmt nicht.« Abwehrhaltung. Und eine Lüge, aber eine Lüge, über die er froh war.
Ein letztes Mal schaute Jaden Lyra lange an, deutete dann eine spöttische Verbeugung vor Simon an und tat schließlich das, was er immer getan hatte, wenn ihm alles über den Kopf zu wachsen drohte. Er verwandelte sich in eine schlanke schwarze Katze, in die Gestalt, in der er sich so oft freier gefühlt hatte als in seiner menschlichen.
Und rannte los.
10
Lyra hatte gehofft, der Schlaf würde ihr guttun.
Stattdessen war sie am frühen Nachmittag aufgewacht und hatte sich gefühlt wie etwas, das man von der Schuhsohle abgekratzt hat. In ihren Träumen war sie gequält worden von Visionen von Jaden und sich selbst im Park. Nur hatten sie es in ihrer Fantasie nicht bei heißen Küssen belassen. Aber egal wie er sie berührt, wie er sie zum Stöhnen gebracht hatte, ein Teil von ihr hatte stets gewusst, dass dies alles nicht real war. Sie hatte gewusst, dass es viel besser wäre, wenn sie einfach zu ihm gehen würde und …
»Blödsinn«, grummelte Lyra, starrte die bernsteinfarbene Flasche vor ihr an und ignorierte die Musik und das angenehme Geplauder rings um sie herum. Dieser blöde Vampir, dachte sie. Wieso hatte er seine Hände – und seinen fantastischen Mund – nicht bei sich behalten können?
Natürlich hätte sie sich bei diesem kleinen gattungsübergreifenden Experiment, bei dem die Gesetze gegenseitiger Anziehungskraft erprobt worden waren, auch etwas besser zurückhalten können. Aber wie sollte sie mit jemandem kämpfen, dem sie am liebsten die Kleider vom Leib gerissen hätte?
Lyra fuhr mit einem Finger durch das Kondenswasser an der Außenseite der Flasche hinab und sah zu, wie die Tropfen langsam auf den Tresen fielen. Zumindest wusste sie, dass er letzte Nacht zurückgekommen war. Sie hatte nachgesehen. Zweimal … oder öfter? Als sie um die Abendessenszeit hierhergegangen war, hatte Jaden noch friedlich und geradezu widerlich sorgenfrei in ihrem stockfinsteren Keller geschlafen. Sie hatte nicht einmal gehört, wie er kurz vor Sonnenaufgang hereingekommen war.
Nicht, dass sie oben auf der Lauer gelegen hätte oder so.
Lyra stützte die Ellenbogen auf den Tresen und seufzte vernehmbar. Sie schwelgte in Gedanken, das war ihr durchaus klar, aber sie wollte es noch eine Weile genießen, ehe sie sich überlegte, was zu tun war. Sie nippte am Bier, an dem sie schon seit einer halben Stunde nuckelte, und lächelte der Barkeeperin Beth zu, auch wenn sich am Rand ihrer Schläfen eine böse Migräne zusammenbraute, die sich mit einem leichten, aber bereits schmerzhaften Trommelwirbel ankündigte.
»Ich kann immer noch nicht fassen, dass dein Vater ihn hierbleiben lässt. Noch dazu in eurem
Haus
«, sagte Simon zum wohl hundertsten Mal. Seine grünbraunen Augen waren verquollen und blutunterlaufen, und wo er sich mit den Fingern durch die Haare gefahren war, standen diese seltsam ab. Nachdem er all die Jahre der süße, liebenswerte Junge von nebenan ohne einen einzigen Feind auf der Welt gewesen war, hatte Simon in Jaden nun einen Erzfeind gefunden. Offenbar konnte er an gar nichts anderes mehr denken als daran, dem Vampir ordentlich an den Kragen zu gehen.
»Du machst aus einer Mücke einen Elefanten«, erwiderte Lyra leise, was ihr ein verächtliches Schnauben einbrachte. Der Gedanke, dass sie die Ursache für dieses maßlos übertriebene Gehabe war, missfiel ihr. Dieser besitzergreifende Beschützerinstinkt, den Simon neuerdings an den Tag legte, war so
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