Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
aus.«
Madeleines Haus war anders als das, welches er und seine Mutter bewohnten. Die Wände waren richtig dick, und man fühlte sich sicher darin. Madeleine hatte keinen Mann. Niemand kam zu Besuch oder läutete an der Tür. Im Ameisenhaus im Wohnzimmer waren die Ameisen den ganzen Tag damit beschäftigt, ihr Nest in Ordnung zu bringen. Sie flitzten durch die Gänge und besuchten ihre Nachbarn. Madeleine hatte ihm versprochen, dass sie bald noch eine Ameisenstadt bauen würden, eine, die noch viel, viel größer war und nur für ihn bestimmt.
Und überall standen Bilder. Auf fast allen waren Ameisen zu sehen, Unmengen von Ameisen. Madeleine hatte sie abgehängt und auf den Fußboden gestellt, damit er sie sich richtig ansehen konnte. Nur ein Bild durfte er nicht sehen. Es war groß und zur Wand gedreht. Er hatte versucht, einen Blick darauf zu werfen, Madeleine hatte es ihm aber verboten. Das Gemälde würde ihm auf den Kopf fallen, hatte sie gedroht.
Er wusste, dass sie auf etwas Wichtiges warteten, und bis es so weit war, schaute er sich die Ameisen an, die echten und die gemalten. Und zwischendurch setzte er sich auf das Sofa, um zu zeichnen. Madeleine saß neben ihm, und sie zeichnete ebenfalls.
»Worauf warten wir?«, fragte er zum tausendsten Mal.
Madeleine holte tief Luft.
»Okay, Sascha. Übermorgen fliegen wir beide auf eine Insel. Es wird dir dort gefallen. Wir wohnen in einem großen alten Holzhaus. Im Garten steht ein riesiger Baum mit einem Baumhaus. Es war meins, als ich ein kleines Mädchen war. Wenn du willst, gehört es nun dir. Wie klingt das, Sascha?«
»Aber was ist mit Mama? Weiß sie davon?«
»Ja, sie weiß davon.«
»Und sie kommt auch, ja?«
Madeleine schwieg einen Augenblick. »Natürlich, Sascha. Etwas später. Sie muss hier erst alles in Ordnung bringen, und das kann noch eine Weile dauern. Wenn es dir dort nicht gefällt, können wir auch wieder hierher zurückkommen.«
»Sie ist also an meinem Geburtstag nicht bei uns?«
»Wann hast du denn Geburtstag, Sascha?«
Sascha radierte eine seiner Ameisen aus. Sie war misslungen. Madeleines waren perfekt. »Sonntag in drei Wochen.«
Madeleine hielt inne und berührte seinen Arm. »Sonntag in drei Wochen?«
»Ja.«
Madeleine musste lachen. »Mein Gott, ich hätte es mir denken können. Du bist ein Kind Angelinas.«
»Nein«, protestierte Sascha, »meine Mum heißt Rachel.«
Noch immer lachend, nahm Madeleine seine Hand. »Angelina war der Name eines Hurrikans. Du wurdest am Tag eines Hurrikans geboren.«
Er konnte nicht einschlafen. Das Bett war seltsam – weicher als seins und riesig. Er würde sein eigenes Bett bekommen, wenn sie auf dieser Insel angekommen waren, wo fast täglich die Sonne schien. Er sehnte sich danach, dort zu sein, weit entfernt von barschen Stimmen und Geschrei mitten in der Nacht. Nur seine Mum, die fehlte ihm schon jetzt.
Er hob den Kopf vom Kissen und spitzte die Ohren. Kein Laut. Madeleine war wohl in ihrem Zimmer. Er fragte sich, ob auch die Ameisen schliefen. Legten sie sich auf die Seite und fielen in Schlaf? Jede für sich oder alle gemütlich zusammen? Oder arbeiteten sie auch nachts?
Er stand auf und ging auf Zehenspitzen zur Tür. Als er sie geöffnet hatte, sah er das gelbe Leuchten der Lampe, die Madeleine für ihn in den Flur gestellt hatte. Unten war ebenfalls Licht. Leise ging er zur Treppe und schlich Stufe um Stufe nach unten. Er spähte ins Wohnzimmer und erblickte Madeleine auf den Knien vor dem Ameisenhaus, den Rücken zur Tür gedreht. Einen Augenblick beobachtete er sie schweigend. Sie trug einen Morgenmantel und machte etwas mit dem Ameisenhaus. Erst tauchte sie etwas in ein Glas, und dann warf sie es durch die Öffnung im Dach. Ganz langsam, eins nach dem anderen.
»Was machst du da?«
Sie schreckte hoch, als sie seine Stimme vernahm, dann drehte sie sich zu ihm um.
»Ich unterhalte mich mit meinen kleinen Freunden«, sagte sie mit einem Lächeln.
»Du fütterst sie, ja?«
»Ja, so könnte man es nennen.«
Sie arbeitete weiter, und er sah ihr zu. Mit einer Pinzette nahm sie das Futter und tauchte es in das Glas. Wenn sie es fallen gelassen hatte, kamen Dutzende Ameisen angeschwärmt und trugen es in einen ihrer Gänge. Er beugte sich vor, um das Ameisenfressen in der schwarzen Schüssel in ihrer Hand zu erkennen. Er konnte es nicht. Das Fressen war unsichtbar.
»Da ist ja gar nichts.« Er sah sie verdutzt an. »Du tust nur so als ob.«
»Ja, du hast in gewisser Weise
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