Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
es ihr fast das Herz brach. Warum war sie nicht mit Sascha geflohen? Irgendwo auf der großen weiten Welt hätten sie gewiss ein sicheres Plätzchen gefunden. Einen Iglu in Grönland, eine Hütte auf Borneo, eine Höhle in Brasilien oder Neuseeland. Sie hatte noch Geld, und Madeleine hatte ihr auch welches angeboten.
Warum nur hatte sie das nicht getan? Bildete sie sich ein, für Antons Tod zahlen zu müssen? Oder hatte sie Angst, das Leben ihres Sohnes zu zerstören, weil sie ein Pechvogel war? Oder meinte sie, als Mörderin nicht das Recht zu haben, einen unschuldigen kleinen Jungen großzuziehen? Vielleicht. Vor allem aber hatte sie ein Schutzwall gegen Uris Wut sein wollen. Eine Mauer, hinter der Sascha in Sicherheit war. Nur, ewig halten würde die nicht, bald würde sie nachgeben …
Sie legte sich wieder auf das Sofa. Sie konnte nur warten. Er würde wahrscheinlich eine Weile brauchen, bis er sie gefunden hatte, und sie würde versuchen müssen, solange bei klarem Verstand zu bleiben. Mit beiden Händen umklammerte sie das Kruzifix. Was hatte Madeleine gesagt? Ihm wohne eine besondere Kraft inne, die sie vor allem Bösen bewahren werde? Generationen weiser Frauen hätten es getragen, und sie würden sie vor Schaden bewahren? Sie bemühte sich, daran zu glauben.
Zunächst erkannte sie die Männer nicht. Der eine war ein hässlicher Riese mit einem Schnauzer wie Saddam und dünn wie ein Gerippe. Der andere kam ihr bekannt vor. Er war viel kleiner und weniger hager als sein Begleiter, aber er stand mit merkwürdig hängenden Schultern da. Sein Gesicht war gerötet, sein Blick wirkte irr, und sein Schädel war vollkommen kahl.
Ohne ein Wort drängten sich die beiden ins Haus, und an der Art, wie er sich bewegte, erkannte Rachel schließlich, dass der kleinere Mann Uri war. Die Veränderung war verblüffend. In den wenigen Wochen, seit sie in Reading gewesen war, hatte er erschreckend abgenommen, und sein dichtes aschblondes Haar war verschwunden. Bei genauerem Hinsehen erkannte sie allerdings, dass er es sich abrasiert hatte.
Beinahe hätte sie gelächelt, obwohl ihr gar nicht danach zu Mute war. Was ein ohnehin brutaler Mann nicht alles tat, um noch gewalttätiger auszusehen.
Er würdigte sie keines Wortes, als sie ihn anflehte, doch zu sagen, was los war, sondern schubste sie aufs Sofa. Dann stellte er mit seinem Begleiter das Haus auf den Kopf. Es war offenkundig, dass mit Uri etwas nicht stimmte. Nicht nur seine fieberhafte Art, sondern auch wie er an seinen Kleidern zerrte und sich immer wieder mit einem schmierigen Taschentuch über den Hals wischte. Er machte einen äußerst nervösen, fast manischen Eindruck. Von seiner früheren Gelassenheit war nichts mehr geblieben.
Sie hatte gerade ein Bad genommen, als es an der Haustür läutete. Ihr Haar war nass, und sie zitterte in ihrem Bademantel vor Kälte und Angst. Dennoch fühlte sie sich in gewisser Hinsicht fast erleichtert. Der schicksalsträchtige Augenblick war endlich gekommen. Würde er ihr glauben – oder nicht?
Nachdem Uri zwanzig Minuten lang ihre wenigen Habseligkeiten durchsucht hatte, pflanzte er sich vor ihr auf. Das Jackett seines ehemals eleganten und sicherlich hervorragend sitzenden beigen Anzugs hing wie ein Sack an ihm herunter, beide Ärmel waren voll Fettflecken. Sein Gesicht war fleckig und hatte rote Kratzspuren, als hätte er sich mit einem Kater eingelassen oder einer Frau, die sich seiner erwehrt hatte.
»Du lügst«, sagte er.
Sie verschränkte protestierend die Arme. »Was soll denn das nun schon wieder heißen, verdammt noch mal?« Sie gab sich alle Mühe, ihn ungläubig anzusehen.
»Mein Bruder hat das Land nicht verlassen.«
»Entschuldige, Uri, du warst doch derjenige, der behauptet hat, dass er in der Ukraine ist. Du hast gesagt, ich soll hier warten, weil sie bald zurückkommen.«
»Ich glaube, dass Anton tot ist.« Er versetzte ihrem Schienbein einen Stoß, nur ganz leicht, aber sie zuckte vor Schmerz zusammen.
»Tot? Um Gottes willen, nein.« Es war leicht, die Bestürzte zu spielen. »Und mein Sascha?«, schrie sie.
Uri sagte kein Wort, sondern musterte sie gründlich.
»Was ist mit Sascha?«, kreischte sie und versuchte aufzustehen, aber er stieß sie mühelos zurück.
»Anton ist hierher gekommen, um Sascha zu holen, richtig?«
»Ja, das ist richtig. Wie ich dir bereits gesagt habe.« Ihre Augen funkelten vor Zorn. »Aber wo sind sie hingefahren?«
Er lachte erregt. »Wenn sie tatsächlich gefahren
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