Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
fahren? Wir sind nun fast eineinhalb Jahre hier. Ich hasse diesen Ort.«
Ihr Vater wandte sich an Rosaria. »Da siehst du die Folgen! Das Kind hat sechs Monate Schule versäumt.«
»Der Arzt sagt, dass sie nicht hingehen muss«, entgegnete Rosaria schulternzuckend. »Außerdem weigert sie sich.«
»Das ist ja lächerlich. Montag geht sie wieder hin, selbst wenn sie das Jahr wiederholen muss. Sie muss zumindest die mittlere Reife bekommen.«
Madeleine schlug ihm auf den Arm. »Ich bin hier«, schrie sie. »Du kannst direkt mit mir reden. Wir brauchen keinen Vermittler.«
Sie riss sich die Jacke von den Schultern, schleuderte die Schuhe von den Füßen und floh in den Wintergarten, den sie als einzigen Raum des Hauses ertragen konnte. Sie verbrachte ihre Tage dort auf einem abgenutzten alten Sofa, das noch von den Vorbesitzern stammte, und zeichnete Ameisen. Tausende Ameisen krabbelten über unzählige Seiten, und die Zeichnungen bedeckten den Boden um sie herum.
Aber jetzt ließ sie sich aufs Sofa fallen und schrie: »Ich bin die amerikanische Schlampe, der man ein Kind gemacht hat und deren Scheißfamilie sonderbar ist. Und da erwartet ihr, dass ich in die Schule gehe und den Leuten gegen übertrete?«
Neville kam hereinmarschiert. »Halt den Mund, du kleines Miststück. Was ist bloß in dich gefahren? So kannst du nicht mit deinen Eltern sprechen.«
»Ach nee«, höhnte sie. »Ausgerechnet du musst herumkommandieren. Nie bist du da! Ich darf mein eigenes Kind nicht anfassen. Jetzt nennt mich Mama auch noch ›Schwester‹, verdammt noch mal. Ich bin hier das dämliche fünfte Rad am Wagen!« Sie brach in Tränen aus.
»Hier wird nicht geflucht!«, ermahnte sie ihr Vater lahm. Sie rechnete damit, dass er ihre Mutter rief, aber er verzichtete darauf, was sie ihm hoch anrechnete. Er schloss die Tür, setzte sich neben sie und wartete, dass sie aufhörte zu weinen. In der Zwischenzeit hob er eine Zeichnung vom Boden auf.
»Mein Gott, Mädchen!«, rief er aus. »Es verschlägt mir die Sprache! Du bist ohne Zweifel aus demselben Holz geschnitzt.«
Sie antwortete nicht. Das Letzte, wonach sie sich jetzt sehnte, war, etwas mit ihm gemeinsam zu haben.
Er sammelte ein paar weitere Blätter vom Boden auf. »Warum so viele Ameisen?«
»Das solltest du doch am besten wissen«, schluchzte sie. »Du hast mir beigebracht, wie man sie zeichnet.«
Er sah sie an, als hätte er sie noch nie wahrgenommen. »Was wünschst du dir, mein kleines Mädchen? Was wünschst du dir vom Leben?«
»Ganz einfach. Ich will mein Kind, und ich will nach Hause.«
Er schüttelte energisch den Kopf. »Du bist für beides zu jung.«
»Schwachsinn. Ich bin siebzehn. Wenn ich will, kann ich beides haben.«
»Deine Mutter würde das nicht überleben. Willst du das?«
»O ja, prima. Erpress mich! Warum zum Teufel bist du nicht hier bei uns? Du bist ihr Mann.« Anklagend stieß sie den Finger gegen seine Brust. »Das Problem ist, Papa, dass du dein eigenes Leben führst. Das Baby macht Mama glücklich und zufrieden. Und ich muss ihr Gesellschaft leisten, damit du den großen Künstler spielen kannst. Neville Frank, der stadtbekannte Junggeselle.«
Er gab ihr eine Ohrfeige. Keine kräftige, aber es reichte, dass sie wieder zu sich kam. Zum ersten Mal seit Ewigkeiten benutzte sie wieder ihren Verstand. Ihre Stimme war eiskalt.
»Was zum Teufel machst du überhaupt in London, und wer ist bei dir?«
Herausfordernd hob sie das Kinn und hielt ihm die andere Wange hin, aber nichts geschah. Als sie ihm einen Blick zuwarf, starrte Neville aus dem Fenster auf das Panorama von Bath. Er sah sie nicht an, als er ihr antwortete.
»Da du so direkt bist, kleines Mädchen, werde ich dir erzählen, wie die Dinge sind. Ich bemühe mich seit geraumer Zeit, deiner Mutter klarzumachen, dass sie mit dir und dem Baby zurück nach Key West gehen und in unserem Haus wohnen soll. Sie wäre dort viel glücklicher. Um das Finanzielle würde ich mich kümmern. Aber deine Mama weigert sich schlichtweg, mich zu verlassen. Für sie gilt eine Ehe für immer.«
»Hast du ein Glück«, erwiderte Madeleine und bemühte sich, den Sarkasmus in ihrer Stimme zu mildern. »Hast du ein Glück, dass dir deine Frau so treu ergeben und so loyal ist.«
»Glaub nicht, dass ich sie nicht liebe«, sagte er ohne jede Überzeugungskraft.
Es war ihr innigster Wunsch, dass sie alle zusammen in die Heimat zurückkehrten. Wenn sie erst mal dort wären, würde alles gut werden. Papa würde
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