Erbschuld: Psychothriller (German Edition)
sein Schlüsselbein gebrochen. Landeten sie auf dem Kopf, konnte das tödlich sein.
Der Banianbaum trieb immer mehr Luftwurzeln. In ein paar Jahren würden sie den gesamten Garten überwuchert haben. Sie stieg die Wendeltreppe zum Baumhaus hoch. Der gute alte Angelo, ob er schon gestorben war? Da er das Wachstum des Baumes und die Bewegungen seiner Äste im Wind in seine Berechnungen mit ein bezogen hatte, war die Konstruktion nach zehn Jahren noch so stabil wie am ersten Tag. Von der Plattform aus konnte sie den größten Teil von Key West sehen, eine rundum vom Meer umschlossene grüne Landschaft, in die glänzende Blechdächer wie Hunderte dem Himmel zugekehrte Spiegel eingestreut waren. Am Mallory Square lag ein riesiges Kreuzfahrtschiff, das alles auf der Insel überragte.
Sie fand den Schlüssel zu Nevilles Atelier dort, wo er immer gewesen war: an einem rostigen Nagel unter dem Dachgesims. Kaum hatte sie einen Fuß hineingesetzt, wusste sie, wo sie wohnen würde. Der Schuppen war zwar baufällig und voll Spinnweben, aber sie hatte viele Stunden dort mit Dingen verbracht, die bei ihrer Mutter auf Missfallen gestoßen wären. Sogar die Ameisenfarm, die Angelo für sie gebaut hatte, stand noch auf einem Brett. Ihre geschäftigen Bewohner waren allerdings längst in die Natur entlassen worden. Als sie die verblichenen Vorhänge zur Seite zog, lächelte sie. Sie würde ihr Bett direkt vor die Glaswand stellen und jeden Morgen den prächtigen Garten sehen, wenn sie die Augen öffnete.
Nevilles alter Camaro stand missmutig und traurig in der Einfahrt. Er war mit dem klebrigen Saft der Birkenfeige bedeckt, deren Krone sich über dem Eingang ausbreitete. Aus zwei Reifen war die Luft entwichen, und die Batterie war leer. Madeleine zog Stiefel und Jeans aus und Baumwollshorts und Sandalen an. So schlenderte sie zu Bob Woods, dem im Ruhestand lebenden Automechaniker am Ende der Gasse, und bat ihn, bei Gelegenheit das Auto zu reparieren. Ihren Führerschein habe sie praktisch schon in der Tasche, erzählte sie ihm, denn sie sei jetzt siebzehn.
Seine Frau bot ihr einen Platz auf der Verandaschaukel an und bewirtete sie mit einem Glas Eistee und einer Scheibe Limonenkuchen. Dann fragte sie Madeleine, ob sie ein Kätzchen mit sechs Zehen haben wolle, das ein echter Nachfahre von Hemingways Katzen war. – Bei Gott, es war herrlich, wieder daheim zu sein.
»Na klar, Mrs Woods. Ich hätte gern ein Kätzchen mit sechs Zehen.«
Aber ihre erste Begeisterung über ihre Heimkehr wurde schon bald durch Trauer gedämpft. Wann würde sie ihr Baby wiedersehen? Mikaela war Tausende von Kilometern entfernt. Sicher, sie befand sich in guten Händen, aber es waren nicht ihre Hände. Eines hatte sie bereits gelernt: Manches konnte man haben und manches nicht. Man durfte nicht zu viel verlangen, sonst wurde man enttäuscht.
Dennoch gab es vielleicht Enttäuschungen, die man mit ein wenig weiblicher List und Detektivarbeit rückgängig machen konnte. Mit diesem Gedanken fuhr sie zwei Wochen später mit einem Greyhound-Bus auf der US 1 in Richtung Miami. Ein paar Erkundigungen um den Fischereihafen hatten zu einer Adresse in Key Largo geführt: dem Dolphin Lodge Motel. Es war mit Zwischenstopps gut drei Stunden weit entfernt, aber ihr machten noch nicht einmal die Hitze und der Jugendliche hinter ihr etwas aus, der sein Mittagessen zusammen mit einer Fontäne von unverdautem Bier erbrach.
Durch zwei parallele Brücken verbunden, die baufällige alte und die neue, zogen die Inseln vorbei: Big Pine Key, Marathon, Layton, Isla Morada, Tavernier und die winzigen Eilande dazwischen. Der Jugendliche hinten rauchte jetzt einen Joint, und niemand beschwerte sich. Es war eine allgemein bekannte Tatsache, dass Cannabis gegen die Reisekrankheit hilft, und der Duft überdeckte den Gestank seines vorherigen Vergehens. Dann begann ein Kind, gegen die Rückseite ihres Sitzes zu treten. Sie fragte sich, warum sie nicht ihren Führerschein abgewartet hatte. Der Camaro war zum Fahren da, obwohl sie wie die meisten Inselbewohner lieber das Fahrrad benutzte.
»Key Largo«, rief der Fahrer und lenkte den Bus auf die Haltespur, die neben der Schnellstraße entlanglief. Madeleine hängte sich ihren Rucksack um und sprang in eine Staubwolke hinaus.
»Wissen Sie, wo ich das Dolphin Lodge Motel finde?«, fragte sie den Fahrer, bevor er die Tür schloss.
»Da müssen Sie fast einen Kilometer zurücklaufen. Sie hätten Bescheid sagen sollen.«
»Macht
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