Erdbeerkönigin
bereits die Berufsschule geschwänzt hat. Ich habe nichts gemerkt. Und um sein Berichtheft habe ich mich schon seit Monaten nicht gekümmert. Schließlich wird Benny achtzehn – ich kann und will ihn nicht wie einen Grundschüler kontrollieren.
»Ich schaffe die Zwischenprüfung nicht! Meine Ausbildung kann ich vergessen!«
Während ich mit Benny rede, höre ich im Hintergrund Nicks wütende Kommentare zu Bennys Ausbrüchen. Schließlich kann ich meinen Sohn kaum noch verstehen.
»Gib mir mal Papa.«
Nick ist sehr aufgebracht. »Wieder so eine typische Sonntagabendaktion, bei der dann alles rauskommt! Weißt du noch, dass er uns grundsätzlich erst am Sonntagabend verraten hat, wenn er am Montag eine Klassenarbeit schrieb. Ich bin total sauer!«
»Kriegst du das hin mit ihm? Er müsste sein Berichtheft nachschreiben. Und vielleicht kannst du wegen des Schwänzens mal mit seinem Lehrer sprechen.«
»Ja, klar. Und dann schmiere ich ihm noch ein Pausenbrot und schicke ihn mit Kakao und einer Gutenachtgeschichte ins Bett.«
»Was soll denn diese Ironie? Die hilft doch nicht weiter.«
Nick explodiert fast: »Merkst du überhaupt noch, was du sagst, Eva? Ironie ist meine einzige Waffe im Kampf gegen diesen halbwüchsigen Terroristen! Er ist im zweiten Lehrjahr! Ach, Eva, ich hab keine Lust mehr. Und keine Kraft! Kommst du jetzt endlich mal nach Hause?«
»Wie bitte?« Habe ich das letzte Telefonat mit einem anderen Mann geführt? Unsere verliebte Zärtlichkeit wird von Nicks Zorn in den Hintergrund gedrängt. So als ob sich ein Elefant vor der Linse eines Fotografen breitmacht, der gerade einen Schmetterling fotografieren will. Nach dem Zusammentreffen mit Francesca ist das zu viel für mich. Ich verliere die Nerven. »Wie stellst du dir das vor?«, keife ich zurück, und auch meine Wut wird zum Elefanten. »Am Dienstag kommen Daniels Freunde, und am Mittwoch ist die Beisetzung!«
»Na und? Hier geht es um deinen Sohn! Was ist dir wichtiger? Wenn du den letzten Zug nimmst, kannst du noch heute Nacht hier sein, und dann fährst du meinetwegen am Mittwoch zu dieser Beisetzung.«
»Und in der Zwischenzeit organisiere ich wieder euren Alltag, oder was? Benny ist fast achtzehn. Soll er doch endlich mal selbst die Verantwortung für sein Leben übernehmen.«
Ich rapple mich vom Sofa hoch und stampfe aufgeregt durch die Wohnung. Dabei zetere ich unablässig in den Hörer: »Weißt du, du könntest zur Abwechslung mal deiner Vaterrolle gerecht werden. Du hast dich doch gerade beschwert, dass du nicht mehr an ihn rankommst. Jetzt hast du ihn hautnah. Also kümmere dich.«
Während ich das sage, weiß ich, dass ich zu weit gehe. Als ob ich eine weiße Wand, die mich wie Nebel umgibt, durchdringe und unvermittelt auf einer Lichtung stehe. Nicks melancholische Stimmung vom vergangenen Telefonat hätte ich nicht ins Feld führen dürfen. Aber ich bin in diesem Moment selbst zu verletzlich und angestrengt. Wie oft habe ich in den letzten Jahren für Benny die Kohlen aus dem Feuer geholt? Habe nachts Facharbeiten verbessert, weil er den Abgabetermin erst einen Tag zuvor realisiert hatte. Habe ihn auf den letzten Drücker zur Schule gefahren, damit er nicht schon wieder zu spät kam. Selbst an den Geburtstag von Mama habe ich ihn jedes Mal erinnert, damit sie nicht traurig ist, dass ihr einziger Enkel ihren Geburtstag vergisst. Den Schein, den sie ihm dann zusteckte, hat er grinsend in seiner Hosentasche verstaut. Nein, ich kann mich jetzt nicht abermals für Benny ins Zeug legen und gleichzeitig dafür sorgen, dass Nicks Leben wieder in ruhigen Bahnen verläuft. Und wer fragt mich einmal, wie ich mich gerade fühle? Ich stehe immer noch auf der Lichtung. Allein – und es wird kalt um mich.
Nick schweigt. Dann sagt er eisig: »Wenn du das so siehst …«
»Wenn ich was wie sehe?«
»Jetzt vernachlässige
ich
also unseren Sohn? Verdrehst du da nicht etwas, Eva?«
Ich hole Luft, aber bevor ich etwas sagen kann, höre ich Nicks verletzte Stimme: »Weißt du was, Eva? Wenn du jetzt nicht kommen kannst, dann … dann brauchst du gar nicht mehr zurückzukommen.«
Erschrocken halte ich den Atem an.
Einen Moment lang herrscht gespanntes Schweigen zwischen uns.
Schließlich frage ich: »Was willst du damit sagen?«
Ich höre nur seinen Atem.
»Nick?« Meine Stimme zittert. »Nick?«
»Vielleicht brauchen wir eine Pause, Eva.« Seine Wut ist verraucht, seine Stimme klingt müde.
Erschrocken umklammere ich den Hörer.
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