Erdbeerkönigin
Fragen in die Haare. Mit wütenden Bewegungen lenke ich den Staubsauger durch den Wohnungsflur. Bin ich zu ängstlich? Oder ist Nick nicht eher zu gleichgültig?
»Wohin seine große Toleranz führt, sieht man ja heute!«, gifte ich vor mich hin und stoße den Staubsauger vor mir her. Die Tränen versiegen jetzt und machen dem Zorn Platz.
Je länger ich darüber nachdenke, desto besser erscheint mir der Plan, vorerst in Hamburg zu bleiben. »Benny wird das allein in den Griff bekommen«, versichere ich mir selbst. Denn tief in meinem Inneren glaube ich an meinen unmöglichen, faulen, schlampigen Sohn. Weil ich ihn erzogen habe und weil er ein großartiges Kind war. »Der findet seinen Weg«, erkläre ich dem Staubsauger und wende meine Gedanken wieder Bennys Erzeuger zu. Wir waren doch gerade dabei, uns neu zu entdecken …
Ich schalte den Staubsauger aus und schiebe ihn ärgerlich in den Putzschrank im Flur. Aber ich werde auf keinen Fall so weitermachen wie bisher und auf die nächste Chance warten, unsere Ehe zu retten! Ich knalle die Schranktür zu und stapfe in die Küche, wo ich die Geschirrspülmaschine fülle. Wir können doch nicht so tun, als wäre nichts geschehen! Nein, das ist das Ende. Erneut steigen Tränen in mir hoch. Ich stehe allein auf einem hohen Berg, der Wind umbraust mich und drückt mich an den Abgrund, der sich tief und ungewiss vor mir auftut. Ich ohne Nick? Das kann ich gar nicht denken. Oder? Aus einem der geöffneten Fenster in der Nachbarschaft dringt eine bittersüße Melodie, gespielt von einer Mundharmonika, zu mir hinüber. Ich werde aufmerksam und blicke zu den Menschen auf den anderen Balkonen hinüber. Ich sehe Paare, Familien, weiter hinten sitzt ein alter Mann allein bei einem Glas Wein. Er sieht zu mir herüber und nickt grüßend. Ich nicke zurück. Nach dem nächsten Schluchzer entwirren sich meine Gedanken. Der Wind lässt nach, und der Abgrund verwandelt sich in ein grünes Tal. Und da, gleich an der Kante, wird ein schmaler Weg sichtbar. Ich trete zurück in die Küche, lasse kaltes Wasser in die Spüle laufen und wasche mein Gesicht. Und wenn ich gar nicht mehr nach Hause zurückkehre? Ich könnte versuchen, mir in Hamburg eine Arbeit zu suchen. Mit Schwester Renate kenne ich bereits eine Kollegin. Sie hätte bestimmt noch einmal ein paar Minuten Zeit für mich und würde mir Tipps geben. Auch die Leitung von Dr. Lenchens Seniorenresidenz wäre eine Anlaufstation, wo ich mich nach Arbeit erkundigen könnte. Es wäre unter Umständen sogar möglich, noch eine Weile in Daniels Wohnung zu wohnen.
Deutlich gefasster gehe ich hinüber in Mias Zimmer, um es für Alissa als Gästezimmer herzurichten. Auf der Suche nach sauberen Kopfkissenbezügen finde ich im Schrank zwischen der Bettwäsche mit Barbie-Motiven ein Skizzenheft von Daniel. Darin hat er das Projekt »Gesucht: Das Blau« festgehalten: eine Art künstlerisches Protokoll – von der ersten Idee bis zum fertigen Drehbuch. Warum wohl hat er es nicht Mia gegeben? Nachdem ich das Heft durchgeblättert habe, lege ich es auf Mias Schreibtisch, damit sie es am Dienstag sofort sieht.
Dann ist alles fertig und ich muss nur noch warten. Wenigstens heule ich nicht mehr. Jedenfalls nicht ständig. Ich trete auf den vorderen Balkon und versuche durch die dichten Bäume nach unten zu sehen. Aber ich kann die Autos von hier nur sehr undeutlich erkennen. Endlich klingelt es, und ich stürze zur Tür.
»Alissa! Dritter Stock!«
»Kein Fahrstuhl?«, höre ich ihre Stimme.
»Kein Fahrstuhl.«
Ein Stöhnen folgt, dann ihre Schritte, und endlich taucht ihr roter Haarschopf am Treppenabsatz auf.
Einige Sekunden lang sehen wir uns nur an. Alissa steigt die letzten Stufen hinauf. Sie lässt ihre Reisetasche auf den Boden plumpsen, öffnet die Arme, wir fallen einander um den Hals, heulen, lachen. Wir reden gleichzeitig und können uns gar nicht mehr loslassen.
»Komm doch erst einmal rein«, sage ich schließlich, als die Flurbeleuchtung zum dritten Mal ausgeht. Ich greife nach Alissas Tasche und ziehe sie in die Wohnung. »Erst etwas trinken und reden oder erst eine Schlossbesichtigung und dann reden?«, frage ich.
Alissa entscheidet sich für die Schlossbesichtigung und ist von der Größe der Wohnung ebenso beeindruckt wie ich anfangs. Sie legt den Kopf in den Nacken. »Die Decke muss mindestens vier Meter hoch sein!«
Sie mustert mich misstrauisch. »Eva, wie kommst du in diese Wohnung? Bist du beim Geheimdienst? Und wo
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