Erdbeerkönigin
ab.« Sie rubbelt ihre Haare. »Für deinen Alltag bist du selbst verantwortlich. Dein Glück erwischt dich, dazu kannst du nichts beitragen. Also, sei bereit!« Sie drückt mir einen Kuss auf die Stirn. »Mein Magen knurrt. Ich guck mal, was ich in deinem Kühlschrank finde.«
Als ich ihr wenig später folge, hat sie schon einen kleinen Käseteller arrangiert und schneidet gerade eine Birne in Scheiben. So sitzen wir mit einem flackernden Windlicht auf dem Küchenbalkon.
Alissa drückt meinen Arm. »Also haben wir uns nicht verloren.«
Wir lächeln einander an.
Sie sagt leise: »Es tut mir leid, dass ich nicht zur Beerdigung deiner Muter kommen konnte. Ich war in Moskau zu einem Drei-Wochen-Kurs – ich habe da an einer privaten Hochschule Russischunterricht für Mediziner gegeben. Als ich nach Hause kam, fand ich deine Karte bei der Post, und der Termin lag schon eine Woche zurück. Ich wäre gern gekommen. Es hat mir so leidgetan.«
Ich sehe sie an. Ihre Augen glänzen verdächtig. Ich streiche über ihren Arm. »Vielen Dank.«
»Hast du meine Blumen gesehen?«
»Deine Blumen?«
»Ein großer Strauß Margeriten. Ich habe ihn in die Vase an ihrem Grab gesteckt.«
»Du warst am Grab meiner Mutter?« Meine Stimme klingt sehr laut. Alissa zuckt zusammen.
»Ja sicher, warum nicht?«
Ohne nachzudenken, erwidere ich: »Weil ich es noch nicht über mich gebracht habe.«
»Du warst noch nicht an ihrem Grab?«
»Ich bin vorher abgehauen. In der Kirche zum Gottesdienst war ich noch. Aber ans Grab konnte ich nicht gehen.«
Alissa nickt verständnisvoll. »Kann ich gut verstehen. Deiner Mutter ist es sicherlich gleichgültig, wann du das tust.«
Etwas von dem Druck auf meiner Brust löst sich. Diesen Druck, an den ich mich schon fast gewöhnt habe. Nick war so enttäuscht darüber, dass ich nicht mit zum Grab gekommen bin, und die versammelten Trauergäste haben mich mit einer Mischung aus Kopfschütteln und Nachsicht gemustert. Dass Alissa für mein Verhalten Verständnis zeigt, erleichtert mich im wahrsten Sinne des Wortes.
Wir sitzen schweigend zusammen und sehen auf das schwarze Wasser, in dem sich vereinzelt Lichter aus den umstehenden Häusern widerspiegeln.
Unvermittelt springt Alissa auf, läuft in den Flur und kommt wenig später wieder zurück. Triumphierend stellt sie ein mir wohl bekanntes Kästchen auf den Tisch.
»Gesprächsstoff!«
Alissa fügt hinzu: »Das Original!«
Wir lächeln einander an.
Alissa nimmt die oberste Karte und liest laut vor: »Wenn Du Gott eine Frage stellen könntest, wie würde sie lauten?«
Ich seufze tief. »Muss ich mich auf eine beschränken?«
So sitzen wir auf dem Balkon über dem Kanal, reden und trinken, und ich bin gleichzeitig traurig, verwundet und beschämt. Fast hätte ich zugelassen, dass unsere Freundschaft den Alltag nicht überlebt. Ohne überhaupt einen Anlass dafür zu haben. Nur weil die Kinder nicht mehr dieselbe Schule besuchten und uns das tägliche Leben nicht mehr ständig zusammenführte? Aber dennoch ist diese Freundschaft so stark, dass ich nur einmal bei Alissa anzurufen brauche – und sie macht sich sofort auf den Weg. Sie wäre auch bis zum Nordpol gefahren, da bin ich mir sicher. Und sicher bin ich mir auch, dass ich mit Alissa befreundet bleiben will – gleichgültig, wohin das Leben uns noch führt.
Alissa fängt meinen Blick auf. Ich weiß, sie denkt und spürt dasselbe, mit dem bedingungslosen Verständnis einer Freundin. Das Besondere dieses Moments ist, dass keine von uns dieses Gefühl ausspricht.
Wir stoßen noch einmal an, genießen die frische Nachtluft und unsere wiedererblühende Freundschaft. »Was hat Sergej zu deinem Spontantrip nach Hamburg gesagt?«
Alissa lacht.
»Mein liebster Ehemann ignoriert meine spontanen Entschlüsse seit Jahren erfolgreich – wie eine Kaltwetterfront, die vorbeizieht.« Sie nickt mir beruhigend zu. »Sergej weiß, dass ich mit dir zusammen bin, und er weiß, wie wichtig du mir bist. Er hat nur gesagt, dass ich vorsichtig fahren – und gesund zu ihm zurückkommen soll.« Sie verzieht ihren Mund zu einem liebevollen Lächeln. »Du kennst ihn: Ohne mich findet er manchmal nicht aus der Wohnungstür.«
Sergej ist Diplom-Meteorologe und arbeitet bei einem Software-Entwickler, der Wetterdienste beliefert. Er ist ein stiller, versponnener Mann, der in seiner Freizeit viel liest und davon träumt, einmal einen Steingarten anzulegen. Auf mich wirkte er immer wie ein vergesslicher
Weitere Kostenlose Bücher