Erdbeerkönigin
Professor. Kein Wunder, dass er sich an Alissa festhält. Sie ist für ihn wie eines dieser kleinen, wendigen Lotsenschiffe, die auf der Elbe die großen Kähne in den Hafen leiten. Wenn ich sie ansehe, zieht es in meinem Herzen, aus Freude und vor Erleichterung. Es gibt ein paar graue Strähnen mehr in ihren rötlichen Locken, aber ihr übermütiges, sympathisches Lachen erinnert mich wie früher an einen Kobold. Alissa entspricht nicht dem üblichen Schönheitsideal. Ihr Mund ist zu groß, ihre Haut zu sommersprossig und ihre Nase deutlich zu lang. Aber alle Einzelteile ergeben zusammen mit ihrem fröhlichen Charme und der herzlichen Art eine wunderbare Frau. Sie ist klein und rundlich und wirkt genau wie die Person, die man an seiner Seite wissen möchte, wenn das Auto nachts in einer einsamen Gegend liegenbleibt. Die »Alles wird gut«-Ausstrahlung ist ihr angeboren.
Ich erzähle Alissa von meinem Lauftraining und erlebe die nächste Überraschung.
»Zwei Seelen, ein Gedanke! Ich habe auch wieder angefangen.«
»Da können wir doch mal zusammen laufen.«
»Ich bitte darum!«
»Hoffentlich wird Sergej nicht eifersüchtig auf mich.«
Alissa zieht die Augenbrauen hoch. »Da musst du dir wohl eher um Nick Gedanken machen – ihr seid doch früher zusammen gelaufen, oder?«
»Es ist aus mit Nick«, erinnere ich sie. Alissa grinst mich an. »Ja, vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.«
Ich kann ihre Heiterkeit nicht teilen. »Diesmal sind wir beide zu weit gegangen.«
»Auch von weit her kann man zurückgehen.«
Ich verdrehe die Augen. »Sagt Tschechow?«
»Nein, sagt deine Freundin. Und zwar …« Sie verstummt, legt die Stirn in Falten und denkt einen Augenblick lang nach. Dann sagt sie: »Vielleicht liegt überhaupt darin der Fehler.«
»Welcher Fehler?«
»Dass man immer alles wie früher machen will. Es ist doch viel interessanter, Neues miteinander auszuprobieren.«
Das leuchtet mir ein. Ich beuge mich aufgeregt vor. »Ich weiß, was du meinst. Dieses Gerede von ›Früher haben wir doch immer das und das gemacht‹ – das ist so lähmend! Früher sind die Leute auch mit der Dampflok gefahren und haben ihre Liebesbriefe in Keilschrift gemeißelt.« Alissa klatscht in die Hände. »Genau!« Sie sieht mich unternehmungslustig an. »Die Zeit ist reif für Neuanfänge! Ist das nicht wunderbar?« Dann zieht sie ihre sommersprossige Nase kraus. »Fragt sich nur, womit
ich
neu anfange. Hast du eine Idee für deine alte Freundin?«
Als Alissa später in Mias Zimmer verschwunden ist und ich auf Daniels Sofa liege, gehen mir ihre Worte über das Glück noch einmal durch den Kopf. Mache ich Nick glücklich? So habe ich die Glücksfrage tatsächlich noch nie gestellt. Und dann fallen mir viele Situationen ein, in denen Nick mit mir bestimmt nicht glücklich war. Weil ich ungerecht und zickig oder ängstlich und wütend war. Vielleicht macht er sich sogar ähnliche Gedanken? Und vielleicht wäre es ihm mittlerweile eine Erleichterung, wenn ich in Hamburg bliebe? Heftige Sehnsucht nach Nick erfasst mich wieder einmal wie ein Schauer. Warum bin ich manchmal nur so dickköpfig? Ich habe ihn im Stich gelassen. Wie war das mit den guten und schlechten Zeiten? Objektiv gesehen erleben wir absolut keine schlechten Zeiten. Das Schlimmste, was uns passieren kann: Benny macht seinen Abschluss ein Jahr später. Ich schäme mich. Subjektiv betrachtet fällt die Bilanz allerdings nicht so positiv aus. Nick versteht mich nicht, er flirtet mit Antje, ich bin nach Hamburg abgehauen, Benny kapselt sich von uns ab, unsere Ehe hängt an einem seidenen Faden, unsere Familie bricht auseinander.
Der Wecker zeigt, dass es bereits halb drei ist. Wie Nick den gestrigen Abend wohl verlebt hat? Vielleicht ist Benny nach dem heftigen Krach zu Hause mit seinen Freunden ausgegangen und torkelt gerade beschwipst zur Tür herein. Ich flüstere in die Dunkelheit: »Nur einmal, einmal nur hob sie den Blick.« Wonach Sven Berger sich so sehr sehnt – ich habe es erlebt. Diesen Schatz darf ich doch nicht fortwerfen. Soll ich Nick anrufen? Aber warum? Ich werde nicht morgen nach Hause fahren, sondern erst nach der Urnenbeisetzung.
Mondlicht fällt auf das Parkett vor meinem Sofa. Nick hat sich von mir getrennt. »Wenn du das sagst.« Also habe ich mich von Nick getrennt. Sagt er. Meine Gedanken fahren Karussell, verheddern sich ineinander. Vielleicht sind wir morgen gar nicht mehr getrennt. Vielleicht ist alles nur ein böser
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