Erdbeerkönigin
Erstes die Küche aufgeräumt. Dann hätte ich Bennys stinkende Klamotten in die Waschmaschine gestopft. Aber ich habe nichts von alledem getan, sondern mich mit einer Mischung aus Trotz, schlechtem Gewissen, Genuss und Fremdheit auf dem Sofa ausgestreckt. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wann ich zuletzt am Tag vor dem Fernseher gefaulenzt habe. Auf dem Land legt man sich nicht tagsüber aufs Sofa. Zumindest nicht, wenn man gesund ist. Seit Benny allerdings abends viel mit seinen Freunden unterwegs ist, fläze ich mich oft auf unsere große, gemütliche Couch – und manchmal kommt auch Nick dazu. Leider schlafen wir beide häufig schon vor den Spätnachrichten ein.
Im Fernsehen sind die Dschungelforscher mittlerweile auf einer Farm angekommen, wo eine Wissenschaftlerin mit einem Affenbaby auf dem Arm ihr Labor zeigt. Ich schalte aus und blicke auf meine Armbanduhr. Kurz vor vier. Wie üblich. Ich wache seit Mamas Tod häufig um diese Zeit auf. Alissa hat mir zu erklären versucht, dass das mit dem Sympathikus, also einem Teil des vegetativen Nervensystems, zu tun haben und letztlich auf eine Verspannung der Wirbelsäule hinweisen kann. Aber diese simple medizinische Erklärung, der ich mit Physiotherapie und Yoga zu Leibe rücken müsste, um sie zu entkräften, hilft mir in diesen quälenden Stunden nicht – wenn die Nacht am dunkelsten und noch kein Vogel zu hören ist. Um vier Uhr nachts ist der Mensch am einsamsten. Es ist nicht möglich, jemanden anzurufen, weil man plaudern möchte. Wer um diese Uhrzeit anruft, hat Schreckliches mitzuteilen: den Tod, eine Trennung, das Aufdecken eines Verrats. Mit dem normalen Alltagskummer darf man dann niemanden belästigen. Um diese Uhrzeit muss man sich einsam nach Trost sehnen. Um vier Uhr nachts sind die Gespenster der Vergangenheit lebendiger, das Bedauern um verpasste Gelegenheiten größer, die Ängste vor dem Leben spürbarer als zu einer anderen Tageszeit. Wem es dann nicht gelingt, wieder einzuschlafen, wer anfängt zu grübeln, kann gleich aufstehen.
Genau das tue ich jetzt. Ursprünglich will ich auf die Toilette, aber als ich die Tür am Ende des Flurs aufstoße und das Licht einschalte, stehe ich wieder in der Küche. Nach dem Herumtappen im dunklen Flur muss ich erst einmal gegen das helle Licht anblinzeln. Vorhin habe ich nur kurz die Speisekammer inspiziert – jetzt sehe ich mich in Ruhe um: eine gut geschnittene, freundliche Küche, in der Daniel mit seinen Freunden nächtelang gefeiert und diskutiert haben muss. Die zerkratzte Fläche des runden Holztisches und die durchgesessenen Küchenstühle legen stummes Zeugnis davon ab. Mein kritischer Blick verrät mir, dass die Küche dringend geputzt werden muss, denn alles ist mit einer feinen Staubschicht bedeckt. Dennoch erkläre ich die Küche sofort zu meinem Lieblingsraum. Sie hat so gar nichts von der kühlen Stilsicherheit der vorderen Räume, in denen ich mir ein wenig verloren vorkomme. Die Kräuter auf der Fensterbank sind vertrocknet, aber die bunten Steingutteller leuchten hinter dem Glas des Küchenschranks. Und der hübsche Balkon! Schon sehe ich mich an dem kleinen Tischchen Kaffee trinken, während unten auf dem Kanal Ruderboote vorbeiziehen. Ich nehme eines der Kochbücher vom Regal: »Französische Küche«. Für einen Moment bin ich versucht, mich in die Lektüre zu vertiefen, so appetitlich wirken die Bilder. Ich habe immer gern gekocht und tue das heute noch täglich, allerdings zunehmend lustloser, weil ich in letzter Zeit so häufig auf meinem liebevoll zubereiteten Essen sitzengeblieben bin. Benny kommt nach Hause, wie es ihm passt, und Nick bleibt abends oft bis spät im Büro.
Mein Blick fällt auf Fotos, die Daniel mit Magneten an der Kühlschranktür befestigt hat. Menschen auf Ausflügen und bei Partys, am Strand, aber auch bei offiziellen Anlässen, wie dunkle Anzüge und Kostüme verraten. Porträts und Schnappschüsse. Auf jedem Bild suche ich Daniel und freue mich, wenn ich ihn sofort erkenne. Irgendwo habe ich einmal gelesen, dass man an den Gesichtern der anderen erkennt, wie alt man selbst geworden ist. Ich bin erleichtert, dass Daniel auf keinem der Bilder alt wirkt und sich nicht wesentlich verändert hat. Intensiv blickende braune Augen, ein vorsichtiges, zärtliches Lächeln, sanft geschwungene Lippen. Seine lockigen braunen Haare, die ihm damals in die Stirn fielen, sind auf den meisten Fotos nach hinten gekämmt. Er trägt Smoking und dreiteilige Anzüge
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