Erdbeerkönigin
genauso unbeschwert wie weiße Hosen und T-Shirts. In der Mitte hängt ein Bild, auf dem ich Daniel nur an den wachsamen, fast schwarzen Augen erkenne – es wurde wohl im Krankenhaus aufgenommen. Daniel lehnt gegen ein Kissen, sein Gesicht ist schmal, ausgezehrt, die Augen sind unnatürlich groß, um seine Lippen haben sich tiefe Falten eingegraben, in seinem rechten Arm steckt ein Infusionsschlauch. Als ich das Bild vom Kühlschrank nehme, um es mehr ins Licht zu halten, fällt mir eine Aufschrift auf der Rückseite auf. »Es geht aufwärts!«, hat jemand mit Filzstift an den unteren Rand geschrieben. Daneben steht ein großes H mit einem Punkt dahinter. Hubertus? Auch ihn entdecke ich auf verschiedenen Fotos: Arm in Arm mit Daniel an einem Strand. Beide tragen flatternde Hemden, ausgeblichene Jeans und sind barfuß. Ein anderes Mal brausen sie lachend, mit albernen Lebkuchenherzen um den Hals, auf einem Autoscooter durch das Bild. Das nächste Foto zeigt Daniel, wie er ein pausbäckiges Baby in die Höhe hält.
Seine Haare sind kürzer, lockiger, sie kräuseln sich im Nacken. Er trägt einen Dreitagebart, der ihm ein verwegenes Aussehen verleiht. Er sieht immer noch jungenhaft aus, aber gleichzeitig verunsichert und skeptisch. Ob das sein Kind ist? Ich mustere das Babygesicht. Die Augen, sie könnten von ihm sein. Aber dann fällt mir Mama ein, die immer sagte, dass man in jedes Kindergesicht Familienähnlichkeiten hineingeheimnissen kann.
Falls Daniel Vater war, muss es auch eine Kindsmutter geben. Sorgfältig studiere ich die Bilder erneut, betrachte jetzt vor allem die Frauen. Und davon gibt es einige. Eine hübsche Brünette steht in einem gepunkteten Kleid auf einem Gartenweg, an der Hand ein kleines Mädchen in einem ebenfalls gepunkteten Kleid. Daniels Tochter? Ein weiteres Foto zeigt Daniel in einem Museum oder einem Ausstellungsraum vor einem großflächigen Gemälde, an seiner Seite eine junge Frau mit langen blonden Haaren und schlanken, braungebrannten Beinen im Minikleid. Sie ist deutlich jünger als er. Von einem Bild prostet ein lustiges Frauentrio – Freundinnen, Geliebte? – dem Fotografen zu. Unsicherheit schwappt wie eine Welle über mich. Diese Menschen auf den Fotos am Kühlschrank, sie waren Daniels Leben. Sie könnten erzählen von ihm, den Verlust ermessen, ihn an ihrem eigenen Leben fühlen. Ich kann es nicht.
Immer wieder kehrt mein Blick zu dem Krankenhausbild zurück. Schließlich schiebe ich es unter das Bild mit dem Baby.
Es ist merkwürdig, hier in dieser fremden Wohnung zu stehen. Hubertus hat gestern Mittag mit dem Aftershave etwas mitgenommen, das ihm und Daniel etwas bedeutete. Und stattdessen hat er mich hiergelassen. Fülle ich in gewisser Weise eine Lücke? Kann ich das überhaupt?
Nach der Küche inspiziere ich das Badezimmer. Dieser Raum ist wie die Wohnzimmer groß und repräsentativ. Helle weiße Kacheln, eine ausladende Badewanne, bunte Badesalze in luxuriösen Flakons. Im Schrank liegen weiße flauschige Badelaken und ein Vorrat von teuren Shampoos und Bodylotions. Auf der Glasablage unter dem Spiegel steht ein halbgefülltes Aftershave in einer blauen Flasche. Ich öffne es. Es duftet angenehm frisch und herb. Ich schließe einen Moment lang die Augen und frage mich, ob Daniel wohl so gerochen hat. Dann schraube ich wie ertappt die Flasche wieder zu. Zum ersten Mal komme ich mir vor wie ein Eindringling.
Neben dem Badezimmer liegt Daniels Schlafzimmer. Ich drücke auf den Lichtschalter nahe der Tür. Doch statt einer Deckenbeleuchtung wird dadurch nur ein Punktstrahler eingeschaltet, der ein kleines, gerahmtes Bild über dem antiken Sekretär beleuchtet. Ich traue meinen Augen nicht und schaue noch einmal hin – und dann feiere ich mit einem Gefühl von staunendem Erkennen ein Wiedersehen mit der einzigen Postkarte, die ich Daniel jemals geschickt habe: »Der Erdbeerkorb« von Jean-Baptiste Simeon Chardin. Der Scheinwerfer betont die anheimelnde Farbigkeit des Bildes. In einem geflochtenen Weidenkorb leuchten zu einer Pyramide gehäufte Erdbeeren, links vor dem Korb steht ein schlichtes Glas Wasser, davor sind sorgfältig zwei weiße Nelken plaziert, daneben zwei Kirschen und eine samtige Aprikose in warmem Orange. Ich war damals so begeistert, als ich diese Karte im Postkartenständer des Zeitungsladens am Hamburger Hauptbahnhof fand. Nicht etwa, weil mich Stillleben aus dem 18 . Jahrhundert besonders interessierten. Mir ging es um die Erdbeeren. Noch
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