Erdbeerkönigin
einmal betrachte ich das kleine dekorative Bild in dem großen leeren Zimmer: eine schlechte Reproduktion auf einer Postkarte. In dem kühlen Raum wirkt sie wie ein freundlicher, wärmender Fixpunkt.
Wieso hat der stilsichere Galerist diese billige Postkarte gerahmt und aufgehängt? Und wieso hat er gewollt, dass ich eine Rede an seinem Grab halte? Ähnlich wie im Badezimmer fühle ich mich hier etwas unbehaglich. Ob Daniel gewusst, geahnt, ja vielleicht sogar gewollt hat, dass ich hierherkomme? Dass ich sein Leben betrachte? Ich, das Mädchen, das er nur einmal getroffen hat.
Das Schlafzimmer wird von einem großen Bett dominiert, über das eine dicke rote Überdecke gebreitet ist. Ich stelle mir vor, wie Daniel in diesem Bett lag und die Erdbeeren auf der Karte so lange betrachtete, bis er das Gefühl hatte, es wären echte Früchte. Dann fällt mir ein, dass er dabei wahrscheinlich häufig nicht allein war. Ich wende den Blick ab und entdecke eine Stehlampe, die ich einschalte. Jetzt ist das gesamte Zimmer hell, und ich kann es mir in Ruhe ansehen.
Die Längswand wird von einem Einbauschrank eingenommen, dessen Türen sich leicht auseinanderschieben lassen. Als Erstes fällt mir ein schöner dunkelgrüner Schal auf. Er ist von einer Seite mit einer dunklen gepunkteten Seide gefüttert, die sich unter meinen Fingern verführerisch glatt anfühlt. Es muss Daniels Lieblingsschal gewesen sein, denn ich erinnere mich, dass er ihn auf mehreren Fotos getragen hat, die ich am Kühlschrank gesehen habe. Neben dem Schal hängen ordentlich sortiert Hemden und Anzüge, finden sich Socken und Unterwäsche. Nicht übertrieben viel, aber mehr, als Nick jemals besessen hat.
Nick arbeitet in einem kleinen Ingenieurbüro für erneuerbare Energien. Er und seine Kollegen konstruieren Windkraftanlagen, die sein Chef in alle Welt verkauft. In Indien ist ihm das zum Beispiel gelungen, mittlerweile bemüht er sich um chinesische Kontakte. Nick besitzt nur einen guten Anzug. Mir gefällt es, wenn er ihn trägt, weil ich finde, dass er ihn männlich wirken lässt. Leider ergeben sich nur selten Gelegenheiten, ihn zu tragen. Der letzte Anlass war Mamas Beerdigung. Normalerweise zieht Nick Jeans und Hemden vor.
Während ich jetzt mit der Hand über Daniels Wäsche streiche, über Leinen, Smokinghemden und Poloshirts, stelle ich mir zwei Fragen. Erstens: Wer hat ihm diese Hemden gebügelt und diesen Schrank in Ordnung gehalten? Und zweitens: Hätte ich das tun wollen? Oder wäre zwischen Daniel und mir alles anders gewesen als in meiner Ehe mit Nick? Ich stehe in Daniels begehbarem Kleiderschrank, und gleichzeitig versuche ich mir vorzustellen, wie Daniel wohl auf
mein
Leben gesehen hätte. Vor meinem inneren Auge stehen Daniel und das junge Mädchen nebeneinander und sehen auf unser Haus in Bienenholz wie auf eine Filmkulisse. Das Bild verschwimmt, und ich finde mich wieder vor der rechten Hälfte von Daniels Schrank.
Hinten in der Ecke hängt ein Anzug. Darauf klebt ein Post-it, das mir zumindest meine erste Frage beantwortet. Auf dem kleinen Zettel steht mit hastiger Hand geschrieben: »Maria, bitte in die Reinigung.« Also gibt es eine Maria, die sich um Daniels Kleidung kümmert. Gekümmert hat. Es kann sich dabei wohl kaum um Daniels Freundin handeln. Nein, diese Maria muss eine Haushaltshilfe oder Putzfrau gewesen sein. Wozu braucht ein Todkranker einen gereinigten dunklen Anzug? Hubertus’ Worte kommen mir in den Sinn: »Am Ende ist alles schneller gegangen, als wir gedacht hatten.« Vielleicht wollte Daniel in seinem dunklen Anzug sterben oder aufgebahrt werden? Mich überläuft ein kühler Schauer. In meinen Erinnerungen ist Daniel so lebendig, dass mich die Realität seines Todes immer wieder erschreckt. Ich habe das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen, und trete schnell an das Fenster, um es zu öffnen. Die kalte Nachtluft fühlt sich auf meinen brennenden Wangen frisch und beruhigend an.
Einige Minuten bleibe ich am offenen Fenster stehen und sehe in die Dunkelheit. Obwohl ich viele Fragen habe, ist mir eines klargeworden: Ich kann unmöglich in diesem Zimmer schlafen.
Im Kopf gehe ich noch einmal alle Zimmer durch: die beiden ineinandergehenden Wohnzimmer, das fast klösterlich eingerichtete Büro, das Schlafzimmer – jetzt bleibt nur noch ein Raum. Ein bisschen fühle ich mich wie in Blaubarts Schloss, als ich wenig später die Tür zum letzten Zimmer direkt neben der Wohnungstür aufstoße. »Gästezimmer« hatte
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