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Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schütze
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deswegen ist es auch völlig in Ordnung, dass Alexandra mir ihre Geheimnisse anvertraut.
    »Wie geht es Mia denn?«
    Alexandra stützt den Kopf in ihre Hand. Abermals füllen sich ihre Augen mit Tränen. »Ich weiß es nicht. Sie wirkt stabil. Natürlich hat sie anfangs sehr geweint, aber danach hat sie sich schnell wieder gefangen. Ich versuche, ihr Leben so normal wie möglich weiterlaufen zu lassen.«
    Sie schneuzt sich. »Vor allem aber reiße ich mich in ihrer Gegenwart zusammen, um sie meinen Schmerz nicht spüren zu lassen. Kinder kommen ja viel schneller über Leid hinweg.«
     
    Es ist ein Phänomen, dass Kinder meist dann auftauchen, wenn man von ihnen redet. So ist es auch diesmal. Alexandra hat gerade die letzten Worte gesprochen, da hören wir Mia im Flur. Alexandra wischt sich schnell noch einmal über die Augen, steckt dann das Tuch in ihre Hosentasche und lächelt mir beschwörend zu.
    Mia hat die Inlineskates gefunden, sie legt sie Alexandra auf den Schoß. Der Schirm ihrer Baseball-Cap verdeckt die Hälfte ihres Gesichts. Sie sieht Daniel nicht ähnlich, doch etwas an ihrer geraden Körperhaltung und der Selbstverständlichkeit, mit der ihre linke Hand mit dem Zuckerlöffel spielt, erinnert mich an ihn.
    »Na, mein Schatz«, sagt Alexandra. Sie legt die Skates auf den Boden und entzieht ihrer Tochter die Zuckerdose. »Das ist übrigens Eva«, stellt sie mich vor. Das Mädchen wirft mir unter dem Schirm der Mütze einen kurzen Blick zu. »Hallo«, sagt es und wendet den Blick sofort wieder ab. Es trägt ein blaues Top, Jeans und an den Füßen ausgetretene Ballerinas. Die hellbraunen Haare fallen lang den Rücken hinunter.
    »Nimm doch mal die Mütze ab«, fordert Alexandra sie auf und will nach der Cap greifen. Doch Mia entwindet sich ihrer Mutter, bringt sich in sichere Entfernung und mault: »Will ich aber nicht.« Sie stromert in die Küche zum Kühlschrank und inspiziert seinen Inhalt. »Kann ich einen Saft?«
    Bevor ich antworten kann, erwidert Alexandra mit einem leicht gereizten Unterton: »Was willst du sagen? Kann ich einen Saft
nehmen?
Trinken? Kaufen? Auskippen?« Sie steht auf und geht in die Küche.
    Mia zieht eine Flasche aus dem Kühlschrank, drückt die Tür wieder zu und verdreht die Augen. Sie nimmt ein Glas aus dem Schrank. »Dann
nehme
ich eben ein Glas.« Nachdem sie das Glas vollgegossen hat, dreht sie sich um und verkündet: »Ich
geh
wieder in mein Zimmer,
schlürfe
den Saft und
schaue,
was ich noch so finde!« Bevor sie aus der Tür tritt, wirft sie uns noch einen Satz hin: »Ich
liebe
Verben!« Alexandra schraubt die Flasche zu und stellt sie zurück in den Kühlschrank. Als sie sich wieder zu mir auf den Balkon setzt, seufzt sie tief auf. »Hast du Kinder?«
    »Ja, ich … also wir, mein Mann Nick und ich, wir haben einen Sohn. Benny. Er ist siebzehn.«
    Alexandra nickt mechanisch. Dann steht sie unvermittelt wieder auf. »Wenn ich schon einmal hier bin, kann ich gleich mal nach den Kochbüchern sehen, die sich Daniel von mir ausgeliehen hat. Außerdem hat er noch CDs von mir.« Sie zeigt auf das Küchenregal, das wir von unserem Platz auf dem Balkon aus sehen können, und lächelt vorsichtig. »Wenn ihm etwas gefallen hat, hat es sich gern so lange ausgeliehen, bis es auf magische Weise in seinen Besitz übergegangen ist.« Als ich neben sie trete, entdecke ich zu meiner Überraschung einen kleinen CD -Recorder hinter der Buchreihe, auf den ich bisher nicht aufmerksam geworden bin. Während Alexandra die Bücher begutachtet, nutze ich die Zeit, um zur Toilette zu gehen. Auf dem Rückweg höre ich ein Geräusch aus Daniels Schlafzimmer, schleiche über den Flur und drücke leise die Tür auf. Und dann sehe ich etwas, das mir den Magen zusammenkrampft. Mia liegt auf dem Bett, ihr Gesicht ist in Daniels grünem Schal vergraben, und sie schluchzt erstickt.
    Mia verbirgt also ihre Gefühle genauso ängstlich vor Alexandra wie Alexandra ihren Schmerz vor ihr. Und alles aus lauter Liebe, um einander nicht noch trauriger zu machen. Ich sehe auf den schmalen Rücken des Mädchens. Aber ich sehe auch noch etwas anderes, nämlich mich selbst mit zwölf Jahren. Ich stehe vor meinem Akkordeon, das Papa mir gekauft hat. Gerade hat Mama mir gesagt, dass Papa tot ist. In mir ist ein Gefühl wie ein furchtbarer Hunger, der schmerzend in meinem Magen brennt. Ich weiß, dass ich nie wieder satt werde, sondern diesen Hunger jeden Tag meines Lebens spüren werde. Ich sehe auf die weißen

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