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Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schütze
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schmiedeeisernen Kerzenbaum. Ich setze mich in eine Bank und schließe die Augen.
    Das letzte Mal war ich bei Mamas Beerdigung in einer Kirche. Ich war an jenem Tag so wütend auf Nick und so unglücklich, dass ich mich kaum noch an die Trauerfeier erinnere. Die Pastorin war mir fremd. Wir hatten vorher kurz miteinander gesprochen, aber sie kannte weder Mama noch mich. Ihr war das nicht vorzuwerfen – es war unsere Schuld. An diesem Tag hasste ich jeden. Deswegen bin ich auch nicht mit ans Grab gegangen, sondern nach der Trauerfeier geflüchtet. Ich war bis heute kein einziges Mal an Mamas Grab.
    Nick glaubt mir bis heute nicht, dass Mama sich selbst umgebracht hat. Aber ich bin davon überzeugt. Mama ist frontal gegen den Brückenpfeiler gefahren. Es gab keinerlei Hinweise auf Fremdverschulden. Nick, der mit dem ermittelnden Inspektor früher Handball gespielt hat, sorgte dafür, dass keine Nachforschungen angestellt wurden. »Eva, das macht sie doch auch nicht wieder lebendig«, versuchte er mich zu trösten. Mir kamen seine Worte dennoch lieblos und kalt vor. Mit dem Abstand, den ich hier in Hamburg gewonnen habe, verspüre ich jedoch ein gewisses Verständnis für ihn. Welchen Grund sollte Mama auch gehabt haben, sich umzubringen? Während ich jetzt in dieser mir unbekannten Kirche sitze, wage ich zum ersten Mal, vor mir selbst zuzugeben, warum ich unbedingt wissen muss, ob Mama einen Unfall hatte oder bewusst in den Tod gefahren ist. Ein Unfalltod wäre schrecklich – aber ein Selbstmord würde beweisen, dass ich, ihre Tochter, versagt habe. Als sie mich am dringendsten brauchte, war ich nicht für sie da. Sie hatte mein ganzes Leben lang immer ein offenes Ohr für mich, ließ alles stehen und liegen, wenn ich mit einem Problem, einer Frage, einer Bitte zu ihr kam. Doch umgekehrt war ich wohl nicht die Person, an die sie sich wandte, als sie nicht mehr weiterwusste. Sie hat sich umgebracht, ohne mich vorzuwarnen. Seit ihrem Tod spüre ich eine tiefe Schuld, als trüge ich einen schweren Rucksack. Ich war wohl viel zu sehr mit meinem eigenen Leben beschäftigt – mit Bennys Pubertät, mit meiner Unzufriedenheit, und habe ihr nicht nur die Probleme mit Nick und das Auseinanderdriften mit Alissa verschwiegen. Ich habe vor allem nie gefragt, wie es ihr ging. Weil ich wollte, dass Mama für immer die aktive, tatkräftige Frau blieb, die mit blütenweißer Bluse, gepflegtem Kurzhaarschnitt und den obligatorischen Lederhandschuhen in Papas altem Mercedes das Lenkrad packte und damit über die Landstraßen fuhr. Ich wollte keine Fragen stellen zu ihrem schwindenden Augenlicht, ihrer Einsamkeit, ihrer zunehmenden Gebrechlichkeit – weil ich Angst vor den Antworten hatte.
    Als ich im Baumarkt die Erdbeerpflanzen kaufte, wurde der Rucksack leichter. Die Erdbeeren führten mich in meine Zeit als Erdbeerkönigin zurück. Mama war damals so froh und stolz auf mich und fuhr mich manchmal zu meinen Veranstaltungen. Dass sie nach Papas Tod nicht wieder heiratete und sich nie von seinem Auto trennte, machte sie zu einer »originellen Erscheinung«, wie die Honoratioren des Dorfes beim Schützenfest sagten. Mein Erdbeerbeet hätte sie mit Sicherheit lustig gefunden. Manchmal glaube ich, dass ich es nur für sie angelegt habe. Ich sehe sie mit den Schultern zucken, die Lippen schürzen und höre sie mit ihrer unnachahmlichen Gelassenheit sagen: »Warum nicht?« Das war ihre Lieblingsantwort auf viele meiner Fragen. In Bezug auf mich hielt Mama alles für möglich.
    »Kann ich Zirkusprinzessin werden?«
    »Warum nicht?«
    »Ich möchte eine Torte aus Schokoladenpudding mit Vanilleeis und Nüssen und Puderzucker backen. Geht das?«
    »Warum nicht?«
    Warum nur habe ich sie nicht gefragt, ob sie froh oder unzufrieden war? Sie muss sich letzten Endes doch verloren gefühlt haben. Obwohl sie ehrenamtlich in der Bücherei der Realschule gearbeitet und gelegentlich mit einigen anderen Frauen aus ihrem Lesezirkel etwas unternommen hat, blieb ihr Freundeskreis sehr überschaubar. Sie wohnte eine halbe Autostunde von uns entfernt, kam am Sonntag regelmäßig zum Kaffee. Dann sahen wir gemeinsam fern, sprachen über den Bau der neuen Turnhalle oder die Schließung des Ladens im Dorf. Wir spazierten durch den Garten und begutachteten meine Beete. Sie erzählte von ihren Mietern, die jetzt in unserem alten Haus lebten – sie hatte sich darin eine kleine Einliegerwohnung eingerichtet. Es schien doch alles in Ordnung zu sein.
    Weil ich

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