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Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schütze
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Ihre Mutter. Ich bin mir sicher: Was auch immer die Wahrheit ist – ob Ihre Mutter ihren Tod selbst herbeigeführt hat oder es ein Unfall war –, Gott hat sie aufgefangen. Und zwar in einer Weise, wie Sie als Tochter es vielleicht nicht vermochten. Im Tod wenden wir uns alle Gott zu. Vielleicht hat Ihre Mutter ihn selbst gesucht.« Er legt seine Hand auf meinen Arm. »Gott segnet Ihre Mutter, aber auch Sie. Er sieht Ihren Kummer und Ihre Trauer. Er wird Sie stützen und leiten. Heute hat er Sie zum Beispiel in unsere Kirche geführt.« Er nimmt noch einmal das Gesangbuch zur Hand und liest: »Wo Schuld belastet, Herr verzeih./Wo Angst bedrückt, mach Hoffnung frei.« Er legt das Buch beiseite und schweigt für einen Moment. Dann sagt er: »Das könnte auch für Ihre Grabrede interessant sein.«
    Ich sehe ihn verständnislos an. »Wieso?«
    »Eine Bestattung ist immer eine Möglichkeit, Dinge loszulassen, die man mit dem Toten nicht aufgearbeitet hat. Das ist der Moment, in dem man sich von Unerledigtem trennt. Die Versöhnung, die nicht mehr stattgefunden hat. Der Dank, den man nie ausgesprochen hat. Die Fragen, die man nie gestellt hat. Die Vorwürfe, die man nie entkräftet hat.« Brenner macht eine Bewegung, als wolle er mit beiden Händen Luft vor sich herschieben. »Lassen Sie das los. Begraben Sie Ihre Schuldgefühle. Vergeben Sie. Der Toten, aber auch sich selbst.« Er sieht mich nachdenklich an. »Mit dem Tod hat es eine besondere Bewandtnis. Wir alle wissen, dass es eines Tages geschehen wird. Aber wenn es dann geschieht, sind wir wie die ersten Menschen auf der Welt, denen es widerfährt. Der Verlust eines geliebten Menschen ist der größte Schmerz. Der Tod ist endgültig. Jedenfalls in dieser Welt.«
    Während Pastor Brenner spricht, erfüllt mich eine wache, lindernde Ruhe. Mir wird klar, dass der Schmerz über Mamas Tod ein Begleiter durch mein weiteres Leben bleiben wird. Und dass ich lernen muss, mit ihm zu leben wie mit einem Bekannten, der neben den schönen, den glücklichen und auch den schwierigen Erinnerungen an meinem Lebenstisch Platz hat.
     
    Als wir uns vor der Kirchentür verabschieden, schüttelt Brenner mir die Hand. »Kommen Sie wieder, solange Sie in Hamburg sind, Eva.«
    Ich gehe am Kanal entlang nach Hause. Obwohl es noch Nachmittag ist, lege mich auf das Sofa und bin Sekunden später tief und fest eingeschlafen.
     
    Als ich aus dem Schlaf hochschrecke, ist es schon dunkel in der Wohnung. Ich liege immer noch in Jeans und Bluse auf dem Sofa, nur meine Socken habe ich abgestreift. Es dauert eine Weile, bis ich das Telefonklingeln erkenne. Der Apparat steht in Daniels Arbeitszimmer. Ich rapple mich auf, renne durch die Wohnung, stoße mir den großen Zeh an einer Ecke des Flurschranks und humple mit schmerzverzerrtem Gesicht weiter. Wieso springt der Anrufbeantworter nicht an?
    Endlich habe ich das Telefon erreicht und nehme ab. »Ja?«
    Eine aufgeregte Frauenstimme keift mich an: »Hör mal zu, ich weiß zwar nicht, wer du bist und was du von Daniel wolltest. Aber ich weiß, wer ich bin, wer ich für ihn war.
Ich
war Daniels Freundin, nicht du! Und ich habe nicht vor, mir am Grab meines Liebsten den Schwachsinn anzuhören, den du verzapfst. Für wen hältst du dich? Was gibt dir das Recht, in seiner Wohnung zu wohnen?«
    Mir klopft das Herz bis zum Hals, aber es gelingt mir doch, in ihren Wortschwall hinein zu fragen: »Francesca? Bist du Francesca?«
    »Ja, allerdings! Ich bin Francesca, und Daniel war mein Freund. Und ich werde verhindern, dass du an seinem Grab die Klappe aufreißt. Merk dir das!« Sie legt auf.
    Ich stehe verschlafen und verwirrt in Daniels Arbeitszimmer und versuche einzuordnen, was gerade geschehen ist. Mein Herz schlägt heftig gegen die Rippen und mir ist zum Heulen. Draußen fährt eine U-Bahn über die Brücke. Die hell erleuchteten Wagen, die wie Lampions durch die Dunkelheit strahlen, sehen aus wie Kirchenfenster.
    Langsam beruhigt sich mein Herz. Innerlich gebe ich Francesca sogar recht. Es würde auch mich furchtbar verletzen, wenn an Nicks Grab eine fremde Frau sprechen würde. Gleichzeitig regt sich auch ein gewisser Widerspruchsgeist in mir. Dass ich eine Fremde bin, ist noch lange kein Grund für Francesca, mich zu beschimpfen.
    In der Küche setze ich mich mit einem Glas Milch an den Tisch. Wer wohl an meinem Grab sprechen würde? Auch eine Pastorin, die ich nicht kenne? Nick? Benny? Und was würden sie wohl über mich sagen? Könnten sie von

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