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Erdbeerkönigin

Erdbeerkönigin

Titel: Erdbeerkönigin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Silke Schütze
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Nick nicht erzählte, nicht erzählen
konnte,
was mich bedrückte, schob sich nach Mamas Tod eine dünne Schicht Fremdheit zwischen uns. Ich fühlte mich abgestumpft und ausgehöhlt, und ich konnte nicht um sie weinen. Ich weinte weder, als die Polizei anrief, noch bei ihrer Beerdigung – und auch nicht, als ich ihre Wohnung ausräumte.
    Ich vermisse sie, aber ich kann nicht um sie trauern. Ich habe gewütet, gefragt, gehadert. Ich kann ihr nicht verzeihen, dass sie sich umgebracht hat – und ich vermag mir nicht zu verzeihen, dass ich ihren Selbstmord nicht verhindern konnte. Hätte ich doch nur ihre Verzweiflung erkannt! Hätte ich bei ihrem letzten Besuch doch besser hingehört! Immer wieder habe ich dieses letzte Treffen analysiert. Gab es irgendeinen Hinweis? Sie wirkte so ruhig und zufrieden, als wir Kaffee tranken. Hatte sie sich vorher ab und an über ihre Nachbarn beschwert, über die Lebensmittelpreise gemeckert und die allgemeine Lieblosigkeit der Menschen beklagt, gab es an diesem Tag keinerlei Unstimmigkeiten. Freundlich hatte sie von der Nachbarin berichtet, deren Hund fortgelaufen war. Auch mit ihrem aktuellen Rentenbescheid schien sie ausgesöhnt. Wie hätte ich wissen können, dass sie nur eine halbe Stunde später ihr Auto gegen die Autobahnbrücke fahren würde? Ich habe mir diese Fragen so häufig gestellt, dass ich sie wie auswendig gelernt aneinanderreihe. Heute aber unterbreche ich meinen Gedankenfluss. Und wenn es doch ein Unfall war? Eine sekundenkurze Ablenkung? Ein Abrutschen vom Pedal? Was, wenn alle meine Fragen mit der Vorstellung, dass sie einen grausamen Unfall hatte, tatsächlich beantwortet wären?
    In meiner Kehle bildet sich ein Kloß. Aber auch in der Stille dieser Kirche kann ich nicht um meine wunderbare, tapfere Mutter weinen. Ich denke an ihre Stärke, mit der sie mich allein aufgezogen hat. An ihren Humor und ihre Prinzipien, an ihre bedingungslose Liebe und ihren Stolz auf mich. Ich denke daran, dass ich sie nie wieder in den Arm nehmen kann. Daran, dass ich ihr nie gedankt habe. Und dass ich niemals wieder zu einem Menschen »Mama« sagen werde. Stumm formen meine Lippen »Mama«, das allererste Wort, das ich jemals gesprochen habe. Ich fühle mich so klein und verloren wie als Kind, wenn ich auf Mamas Rückkehr wartete. Ich weiß nicht, wie lange ich in der Kirche gesessen habe, als ein Mann vorsichtig an die Glastür klopft. Er sieht aus wie ein Pilot oder ein Leistungssportler: eine große, schlanke Figur mit breiten Schultern, ein braungebranntes Gesicht, dunkle, kurze Haare, Dreitagebart. Als er lächelt, sind seine regelmäßigen Zähne zu sehen. Er steckt seinen Kopf in den Raum. »Bitte entschuldigen Sie, ich will die Kirche jetzt wieder abschließen.«
    Als ich langsam aufstehe, lächelt er mir aufmunternd zu. »Oder möchten Sie noch ein bisschen bleiben? Ich könnte auch später wiederkommen.« Er streckt mir seine Hand entgegen. »Ich bin Markus Brenner, Pastor in dieser Kirche. Ich habe Sie noch nie hier gesehen. Sind Sie neu in der Gemeinde?« Sein Händedruck ist fest und vertrauenerweckend. Er sieht mich aufmerksam an, setzt sich dann unvermittelt neben mich und fragt: »Was bedrückt Sie? Mögen Sie darüber sprechen? Ich habe Zeit.« Er fügt hinzu: »Darf ich fragen, wie Sie heißen? Meinen Namen kennen Sie ja bereits. Es spricht sich immer leichter, wenn man einander beim Namen nennen kann.«
    »Eva. Eva Brandt.«
    Brenner lächelt mir wieder zu. »Eva. Wie schön. Also Eva, mögen Sie sagen, was Sie so traurig macht?«
    Da ist er wieder, dieser Kloß in meiner Kehle. Und dann erzähle ich ihm alles. Von meiner Flucht, von Nick und Benny, von meiner Befürchtung, dass Mama sich umgebracht hat und ich daran die Schuld trage. Zuletzt erzähle ich ihm von der Trauerrede für Daniel.
    Pastor Brenner nickt ab und zu, und einmal berührt er kurz und tröstlich meine Schulter. Endlich verstumme ich. Der Pastor greift zu einem der in rotes Leder gebundenen Gesangbücher, die in einem Regal neben den Bänken stehen. Er blättert durch die dünnen Seiten, bis er gefunden hat, was er sucht. »Hier, Nummer  211 . Das haben wir kürzlich im Taufgottesdienst gesungen. Hören Sie doch einmal auf den Text der vierten Strophe.« Er liest: »So segne nun auch dieses Kind/und die, die seine Nächsten sind./Wo Schuld belastet, Herr, verzeih./Wo Angst bedrückt, mach Hoffnung frei.« Er sieht mir in die Augen. »Sehen Sie, Eva, wir sind doch alle Gottes Kinder, auch

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