Erdbeerkönigin
fällt mir ein, dass du ja nicht wissen konntest, dass ich mich hier auf Spurensuche begeben würde. Wusstest du all die Jahre, wo ich war und wer ich war? Wusstest du von Nick und Benny? Hat dich das gefreut oder gelangweilt? Hätte dich meine Bewunderung gefreut, dass du in einer Stadt, in der die Kunst nicht viel gilt, deine Galerie trotzdem zum Erfolg geführt hast? Daniel, ich stehe an deinem Grab und ich habe ausschließlich Fragen. Warum bist du nicht Maler geworden? Warum hast du nicht viel früher versucht, Kontakt mit mir aufzunehmen? Warum hast du den Brief an mich nicht vollendet und ihn nie abgeschickt? Warum hast du die Chardin-Postkarte gerahmt und aufgehängt?
Und vor allem, warum bist du so ein egoistischer Einzelgänger geworden, der für seine Grabrede lediglich eine Zufallsbekanntschaft aus der Vergangenheit hervorzerrt? Dass es offensichtlich keinen anderen Menschen in deinem Leben gab, den du mit dieser Aufgabe betrauen konntest, spricht doch für sich. Vielleicht hattest du doch weniger gute Freunde, als es den Anschein hat.
Nein, Daniel, mit dem schönen Jungen, der damals seine Sehnsucht über die Elbe schrie und seinen Traum leben wollte, hattest du vor deinem Tod wohl nicht mehr viel zu tun.
Adieu, Daniel.
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9 . Kapitel
Wovon bräuchte die Welt mehr
und wovon weniger?
(Gesprächsstoff: Original)
Dienstag, Tag 7
D as Schreiben der Grabrede hat mich zwar etwas erleichtert, aber am nächsten Tag fühle ich mich in Daniels Wohnung beim Erwachen fast so unwohl wie nach der ersten Nacht. Als hätte ich hinter seinem Rücken schlecht über ihn geredet. Im Tageslicht wirkt der Anruf von Francesca auch nur noch halb so erschreckend. Im Gegenteil. Was für eine Energie! Und welch ein Mut! Ich würde mich nie trauen, bei einem fremden Menschen anzurufen und loszuschimpfen. Nick und Benny sind die einzigen Menschen, mit denen ich schimpfe. Mein schlechtes Gewissen pikt: Ausgerechnet die Menschen, die mir am nächsten sind, blaffe ich an. Benny dauernd und Nick vor allem, wenn er mich mit seiner ruhigen »Entspann-dich-doch-mal«-Haltung aufgeregt hat. Alissa hätte für dieses Phänomen bestimmt das passende Tschechow-Zitat parat. So was wie »Das Übel ist nicht, dass wir unsere Feinde hassen, sondern dass wir unsere Nächsten nicht genügend lieben«. Manchmal sind Klassiker keine Hilfe. Nach fast einer Woche in Hamburg habe ich das Gefühl, nur noch in meinem eigenen Saft zu schmoren und gedanklich ausschließlich um mich selbst zu kreisen. Aber da ich an meinem Zustand nichts ändern kann, schiebe ich die Selbstvorwürfe entschieden zur Seite und wende mich noch einmal Francesca zu. Ihr temperamentvoller Ausbruch verdeutlicht mir mein Dilemma. Es gelingt mir nicht, aus meinen eigenen verschwommenen Erinnerungen und den spärlichen Beschreibungen seiner Freunde ein stimmiges Bild von Daniel entstehen zu lassen. Ein Bild, dem ich in meiner Grabrede gerecht werden könnte. Daniel hatte offenbar so viele unterschiedliche und widersprüchliche Facetten. Für Francesca war er ihr Liebster, um den sie noch heute kämpft wie eine Löwin. Vielleicht gerade weil sie ahnt, dass er ihre Gefühle in ihrer Ausschließlichkeit nicht teilte, und weiß, dass sie von seinen Freunden nicht anerkannt wurde. Alexandra ist bitter enttäuscht von Daniel, während Daniel für Billie ein netter, aber unzuverlässiger Casanova war, der aus sportlichem Interesse wesentlich jüngere Frauen eroberte. Respektieren konnte sie nur sein geschäftliches Talent. Theo hielt ihn für gerissen und clever, während Hubertus ihn mit einer unerklärlichen Unbedingtheit liebte. Wie hatte er gesagt: »Daniel war für mich der Mensch, der mir mein Leben erklärte.«
Die neuen Laufschuhe strahlen in Weiß und Rot im Korridor. Während ich im Kopf noch einmal Daniels Freunde durchgehe, ziehe ich sie an und tigere durch die Wohnung. Die Schuhe einzulaufen kann nicht schaden. Probeweise jogge ich ein paar Schritte durch den Flur. Wie stand beispielsweise Filou zu Daniel? Er hat bei ihm in der Galerie gearbeitet. Vielleicht sollte ich mich mit ihm noch einmal treffen? Hubertus kann mir sicher seine Telefonnummer geben. Ich hopse ein wenig auf und ab. Die Schuhe fühlen sich immer noch gut an. Dann tänzle ich zurück ins Wohnzimmer, schnappe mir mein Handy und wähle Hubertus’ Nummer.
»Eva!« Er freut sich hörbar. »Wie geht es dir? Was macht die Grabrede?«
»Ich arbeite dran«, flunkere ich.
»Also hast du dich
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