Erdbeerkönigin
ständig das Gefühl habe, Daniel zu sehen. Im Park, in der U-Bahn, im Supermarkt. Hubertus geht es ähnlich, und offenbar ist es verbreitet, dass Hinterbliebene glauben, kürzlich Verstorbene zu sehen. Ich weiß nicht, woran das liegt. Wo hast du ihn denn gesehen?«
Ich erzähle von meinem Bummel durch die Innenstadt. »Ach, Innenstadt!«, winkt er ab. »Das ist doch Touristenprogramm. Daniel war dort nicht gern. Du musst das echte Hamburg kennenlernen, wo das Herz der Stadt schlägt.«
»Im Schanzenviertel?« Ich versuche mich als Kennerin auszugeben.
Filou nickt. »Das ist schon besser. Da hast du die Nähe zu St. Pauli – und da lebt noch ein Stück des alten Hamburgs. Aber nein, ich meine den Hafen, die Elbe!«
Ein Bild zuckt durch meinen Kopf: Daniel am Elbstrand. Er winkt einem großen Schiff nach und ruft: »Nimm mich mit!«
In diesem Moment wird mir klar, warum ich Daniel bisher noch nicht gefunden habe. Auf der Suche nach ihm muss ich wieder an die Elbe fahren! Ich muss das Restaurant finden, in dem Tante Hedwig ihren Geburtstag feierte, um die Orte aufzusuchen, an denen wir damals waren. Ob ich die Stelle wiedererkenne, an der wir gesessen haben? Oder … Ich kann nicht verhindern, dass ich rot werde.
»Was ist los?«, amüsiert sich Filou, der mich mustert, als säße ich in einem Verhör. »Woran denkst du, wenn ich Hafen sage? Warum bist du rot geworden? Denkst du an die Herbertstraße, unsere sündige Meile?«
»Nein! Ich dachte an etwas völlig anderes«, wehre ich ab und setze schnell ein strenges Gesicht auf, um Filou zu zeigen, dass ich nicht vorhabe, meine Gedanken mit ihm zu teilen. Vor allem nicht solche, die mich erröten lassen.
Filou springt auf. »Nun schau doch nicht so böse, chérie. Ich werde dich nicht weiter fragen. Muss ich ja auch nicht. Ich kenne euch Frauen. Früher oder später erzählt ihr einem sowieso alles.«
Seine Einschätzung amüsiert mich einerseits, andererseits finde ich ihn reichlich selbstgefällig.
»Das weißt du doch gar nicht.«
Filou wirft mir einen Blick zu, der mir wohl deutlich machen soll, dass er die Frauen besser kennt als sie sich selbst. Aber ihm macht das Gespräch offensichtlich Spaß. Deswegen sagt er bereitwillig: »Vielleicht bist du ja tatsächlich eine Frau, die mich einmal überrascht. Immerhin hast du kurzentschlossen deinem tristen Landleben ein Ende gesetzt und bist mitten ins Großstadtabenteuer geflohen. Eine schöne Frau mit Entdeckerlust – wie wunderbar!« Er strahlt mich an, als erwarte er von mir einen Preis für sein Wortgeklingel.
Obwohl mir mein Landleben nie trist vorgekommen ist und eine Zugfahrt nach Hamburg nur für wenige Menschen ein Abenteuer darstellt, muss ich wider Willen lächeln. Seine Komplimente lösen ein angenehmes Gefühl in mir aus. Damit meine ich nicht etwa Schmetterlinge im Bauch, die frische Verliebtheit losflattern lässt, sondern ein Prickeln wie Brausepulver. Brausepulver hat einen Geschmack, der säuerlich, lustvoll und frisch auf der Zunge britzelt – und ebenso schnell verfliegt, wie er die Geschmacksknospen überwältigt. Brausepulver hält den Genussvergleich mit teurer Schokolade nicht aus. Filous Flirtversuche sind Brausepulver für das Herz. Sie schmeicheln mir, aber sie berühren meine Seele nicht. Und trotzdem: Manchmal muss es eben Brausepulver sein.
»Du weißt doch, dass ich an der Grabrede für Daniel arbeite«, lenke ich das Gespräch jetzt auf den Grund meines Besuchs. »Erzähl mir bitte mehr von ihm. Ich sammle Eindrücke und Meinungen seiner Freunde. Ich kannte ihn ja nicht so gut.«
Filou nickt. »Wie nennt dich Theo noch? Die große Unbekannte.« Er grinst. »Also, ich habe Daniel vor fünf Jahren kennengelernt, als ich pleiteging. Ich hatte mich mit einer kleinen PR -Agentur selbständig gemacht, bekam auch ein paar schöne Aufträge. Aber meine Auftraggeber haben sich mit der Überweisung der Honorare immer so viel Zeit gelassen, dass mein Traum schon zerplatzt war, bevor ich überhaupt an die Rückzahlung des Bankdarlehens denken konnte. Daniel brauchte jemanden, der ihm schnell einen Pressetext für eine Ausstellung schrieb, und ich war ihm empfohlen worden.« Filou blickt sich suchend um und zieht einen Katalog aus dem Regal. »Hier, ›Pop Art‹, das war unsere erste Zusammenarbeit. Ich hatte von Kunst nicht besonders viel Ahnung, aber große Lust darauf. Als Daniel von meinen Problemen hörte, bot er mir an, für ihn zu arbeiten.«
»Hatte Daniel viel
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