Erdbeerkönigin
konnte ja so gut zeichnen!« Sie macht eine Pause und lächelt wieder, was ihrem Gesicht eine überraschende Weichheit verleiht. »Als der kleine Mehmet, eines unserer Leukämiekinder, starb, hat Herr Eisenthuer den Eltern die Beerdigung bezahlt.« Mich überrascht diese Information, und ich frage mich unwillkürlich, ob Filou und Theo das gewusst haben. »Ich wusste gar nicht, dass Daniel solche Seiten hatte«, kommentiere ich Schwester Renates Worte. Sie grinst. »Na, er war trotzdem kein Heiliger, der Herr Eisenthuer. Wenn ihm etwas nicht passte, konnte er sehr unangenehm werden. Er hat sich einmal regelrecht mit mir angelegt, weil ihm das Krankenhausessen nicht schmeckte. Und weil ich ihm zunächst widersprach, hat er bei jeder Mahlzeit nach mir verlangt und sich dann detailliert beschwert.« In einer kleinen Pantomime hebt sie ein imaginäres Salatblatt hoch. »Schlappgemacht! Soll ich das gleich pressen und in meine Blättersammlung einordnen?«, äfft sie ihn nach. »Oder, wissen Sie, was ich hier mache?« Sie rührt mit einer nicht vorhandenen Gabel auf einem nicht vorhandenen Teller. »Ich suche nach den Vitaminen. Da kann ich aber lange suchen. Die wurden nämlich schon in der Küche umgebracht!« Sie verschränkt die Arme vor dem Körper. »Und einmal hat er sich mit einem Pfleger gestritten. Der machte früher Feierabend, weil er zu einem Konzert wollte. Aber Herr Eisenthuer hat sich nachdrücklich dagegen gesperrt.«
»Aber warum denn? Ging es ihm akut so schlecht?«
Schwester Renate sieht mich ernst an. »An diesem Abend nicht. Uns war es also unverständlich, warum er sich so aufregte und rumbrüllte. ›Das ist unterlassene Hilfeleistung!‹, hat er geschrien. ›Arbeitsverweigerung!‹ Dabei ging es höchstens um eine halbe Stunde, und der Nachtdienst war sowieso schon da.« Sie seufzt. »Viel später hat er mir dann erzählt, dass er selbst so gern zu diesem Konzert gegangen wäre. Es war irgendeine französische Sängerin.« Sie steckt einen Kugelschreiber in ein Glas. »Er hat sich bei dem Pfleger entschuldigt.«
Eine Schwester klopft an die Tür. »Schwester Renate, könnten Sie bitte mal kommen?«
Sie steht auf und sagt entschuldigend: »Tja, ich muss jetzt wieder arbeiten.« Dann hat sie eine Idee. »Kommen Sie doch mit, ich könnte mir vorstellen, dass Sie von Herrn Berger noch mehr erfahren.« Sie führt mich den Korridor entlang. »Herr Berger hat zuletzt mit Herrn Eisenthuer ein Zimmer geteilt.« Sie macht eine kleine Pause. »Ebenfalls Lungenkrebs.« Sie gibt mir ein Zeichen zu warten und verschwindet hinter einer weißen Zimmertür. Wenig später tritt sie wieder zu mir auf den Korridor. »Herr Berger freut sich auf Sie. Vielleicht mögen Sie mit ihm ein Stück spazieren gehen? Er kommt nach der letzten Chemo gerade wieder zu Kräften und kann wohl auch bald nach Hause.« Sie schüttelt mir kräftig die Hand. »Ich wünsche Ihnen viel Glück, es wird Ihnen sicher leichtfallen, über einen so netten Menschen wie Herrn Eisenthuer eine Rede zu halten.« Sie winkt mir noch einmal zu und geht dann mit schnellen Schritten den Flur entlang.
Ich klopfe an die Tür und öffne sie, als ich ein freundliches »Herein« höre. Zwei Betten stehen in dem hellen, geräumigen Zimmer. Eines ist leer, auf dem anderen liegt ein kahlköpfiger junger Mann mit großen blauen Augen. Er trägt einen dunkelblauen Jogginganzug und richtet sich halb auf, um mir die Hand zu schütteln. Sein Händedruck ist fest, und seine Hände sind warm. »Sven Berger.«
»Eva Brandt.«
Er zeigt auf einen Stuhl, den ich mir heranrücken soll. »Schwester Renate meint zwar, wir sollten ein Stück spazieren gehen, aber ich bin noch reichlich schlapp.«
»Aber frische Luft tut immer gut. Und wir könnten uns ja eine Bank in der Sonne suchen.«
Berger seufzt. »Sie sind also auch eine dieser Terroristinnen.«
»Wie meinen Sie das?«
Er zieht eine Grimasse. »Hat denn hier keiner mehr Respekt vor einem Todkranken?«
Ich muss grinsen. Berger ist offensichtlich einer jener Patienten, die man als Krankenschwester lieben lernt. Ruppig, geradeheraus, aber enorm tapfer. Einer wie er drangsaliert das Pflegepersonal niemals. Er wird sich jedes Mal entschuldigen, wenn er jammert, obwohl er doch sehr gute Gründe dafür hat. Er wird immer versuchen, sich zurückzunehmen, auch wenn die Schmerzen unerträglich werden und die Angst ihn einschnürt wie ein schwarzes Tuch, unter dem er zu ersticken droht.
Ich bin erleichtert. Bei Berger
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