Erde
gefährliche Zeiten für die Erde, als die sogenannte ›Gaia-Homoeostase‹ fast zusammenbrach. Aber das stimmt einfach nicht! Die sogenannte ökologische Krise von heute ist nur eine weitere in einer langen Reihe natürlicher…«
Das Spiegelbild ihres Lächelns schimmerte auf dem Display. Hier waren Vertreter drei verschiedener Gesichtspunkte, die einander alle heftig konträr waren und sie doch alle angriffen! Sie sah noch andere rötliche Tiraden durch. Einige Madrid-Katholiken ergossen Schmähungen über sie wegen Beihilfe bei der Wiedererstehung von Mastodons. Eine weiße Gesellschaft von Gegnern der Rassentrennung attackierte sie wegen des Besuchs von Kuwenezi. Ein ›Marienkäferkombinat‹ klagte sie an, die Milliarden Dollar schwere Industrie der Seuchenkontrolle zu unterminieren. Und so weiter. Und so fort. In den meisten Fällen verstand der Schreiber nicht einmal ihre wirkliche Position. Sollte ein seltener Tadel tatsächlich Intelligenz erkennen lassen, würde er in eine Akte mit Ausschnitten wandern. Aber leider hatte von den heutigen Haßpamphleten keines etwas Erleuchtendes zu bieten.
Die technischen Zitate waren kaum interessanter. Meist waren es Doktorarbeiten, die ihre alten Aufsätze zitierten, die ›Klassiker‹, die zu dem verdammten Nobelpreis geführt hatten. Sie wählte drei aussichtsreiche für späteres Studium aus und verwarf den Rest.
Unter den persönlichen Nachrichten war ein aufrichtiger Brief von Pauline Cockerel, die Jen bat, die London-Arche zu besuchen.
»Baby vermißt Sie.«
Die junge Genetikerin hatte eine belebte Montage des jungen Mastodons in Aktion beigefügt. Jen lachte, als Baby mit einem grinsenden Siegestrompeten den Rüssel hob, während es einen geklauten Apfel kaute.
Da waren ein paar weitere freundliche Mitteilungen von loyalen Kollegen und früheren Studenten. Und ein Datenpaket von Jacques, ihrem dritten Gatten – mit einem Folio seiner jüngsten Gemälde und einer Einladung zu seiner nächsten Ausstellung.
Alle dies verdiente Antworten. Jen vermerkte und diktierte Vorentwürfe und ließ den Syntaxprüfer ihre knappe Sprache in deutliche Absätze umwandeln. Manchmal strömten die Gedanken sogar schneller als die Beurteilung. Darum brachte Jen Briefe nie vor Donnerstag oder Freitag ›zur Post‹, wo sie alles sorgfältig ein zweites Mal durchging.
Sie blickte auf die Uhr. Gut, die lästige Arbeit würde vor dem Morgentee erledigt sein. Nur noch zwei Briefe…
»…Es tut mir wirklich leid, Sie zu belästigen. Wahrscheinlich erinnern Sie sich nicht mehr an mich. Ich habe während ihres Vortrags in der ersten Reihe gesessen…«
Dieser Schreiber war nicht geübt, sich kurz zu fassen. Oder ihm fehlte ein Knappheitsprogramm, um zur Sache zu kommen. Jen wollte schon eine ihrer Standardantworten für Fanpost abrufen, als eine wichtige Zeile durchkam.
»…in Kuwenezi. Ich war der Junge mit den kleinen Pavianen…«
Jen erinnerte sich wirklich! Der Name des Jungen war gewesen… Nelson Soundso oder ähnlich. Ungebildet, aber intelligent und ernst, hatte er an dem Abend die richtigen Fragen gestellt, während seine erfahreneren älteren Kollegen noch in einem Morast von Details steckten.
»… Ich habe hart studiert, begreife aber immer noch manches nicht von dem gaianischen Paradigma…«
Jen nickte verständnisvoll. Das Wort ›gaianisch‹ war fast so bedeutungslos geworden wie ›sozialistisch‹ oder ›konservativ‹ vor einem halben Jahrhundert waren… ein Korb voller Widersprüche. Manchmal fragte sie sich, was James Lovelock und Lynn Margulis darüber gedacht haben würden, wohin ihre ursprünglichen dünnen Monographien geführt hatten. Oder der russische Mystiker Vernadskij, der noch früher die Erde als einen lebenden Organismus gesehen hatte.
Vielleicht waren diese Zeiten reif für eine neue militante Kirche, wie in den abflauenden Tagen des römischen Reiches. Vielleicht liebten große Bewegungen lebende Propheten, um sie zu verherrlichen und dann zu kreuzigen. Verehrung mit nachfolgendem Justizmord schien das übliche Verfahren zu sein.
Nachdem Lovelock und Margulis und Vernadskij längst dahin waren, mußte sich der neue Gläubige an Jen Wolling halten – Gründungsheilige und Ketzerin. Manchmal kam es so weit, daß sie sogar wünschte, niemals diese Erscheinung gehabt zu haben, vor so langer Zeit auf Mount Snowdon, wo die wirbelnden Blätter ihr plötzlich die juwelenartige mathematische Klarheit der Gaia-Metapher offenbart
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