Erde
Summe ihrer Existenz.
Das heißt, bis die Australier kamen. Von diesem Augenblick an war das Steinzeitalter vorbei. Bald hüllte die universelle Ära des Elektrons alles ein – eine Welt, eine Kultur, ein gemeinsamer Wortschatz. Ein gemeinsames Netz.
Droben hatte Sepaks Ururonkel zu den Berühmtheiten gehört, die man für globale neue Nachrichtenkanäle interviewte als einen der wenigen, die sich daran erinnerten, wie die großen weißen Fremden ankamen. ›Der letzte Erstkontakt‹ – so nannten die Medien dies Ereignis.
Oder mindestens, könnte Stan Goldman hartnäckig behaupten, der letzte Erstkontakt, der auf der Erde stattfand.
Sepak würde das als die geringste Ausrede bezeichnen. Er sah offenbar keinen Unterschied zwischen Maori und pakeha, indem er alle Nichtpapua im genetischen Sinn als ›Weiße‹ abtat. In der eigenartigen umgedrehten Hackordnung modernen ethnischen Geschmacks gab es für ihn keinen höheren Status, als einen Urgroßvater zu haben, der sein eigenes Werkzeug noch selbst aus einheimischem Stein gemeißelt hatte. Der in reiner, primitiver Unschuld das Fleisch seiner Nachbarn verehrungsvoll und genießerisch zu verzehren pflegte.
Sepak schaute eine der Galerien entlang, wo Wellen aus poliertem Stein sich zu verhüllten Mysterien senkten. »So. Kein Fluß mehr. Sehr schlimm. Was nützt eine prächtige Höhle ohne einen Fluß, der sie lachen und singen läßt? Was ist aus dem Ding geworden, das diesen mächtigen Platz ausgehöhlt hat? So ein glanzloses Ende, weggelutscht zu werden in Bewässerungszisternen!«
»Es gibt Anzeichen dafür, daß der Fluß noch vor wenigen Dekaden geströmt ist«, George holte ein Taschentuch hervor und faltete es auseinander. Sepak starrte auf einige glitzernde Splitter. »Was ist das?«
»Fischgräten.«
Der Papua seufzte. Was für eine blinde Species auch einmal am oberen Ende der Nahrungskette dieser winzigen Ökosphäre gelebt haben mochte, einige kümmerliche Skelette waren ihr einziger Nachlaß.
George wußte, daß Millionen über der Erdoberfläche sein Gefühl eines Verlustes teilen würden, wenn sie es erführen. In diesen Tagen könnte das sogar zu Handlungsappellen führen. Obwohl die Einzigartigkeit dieser speziellen Linie für immer erloschen war, könnte vielleicht eine andere Species, die in irgendeinem Reservat oder einer Lebensarche eingeschlossen war, hier gedeihen, sofern nur das Wasser wiederkam. Aber George würde sein Geheimnis bewahren und überlegte nur, wie diese ausgetrockneten Kanäle ausgesehen haben könnten, als ein glucksendes, lichtloses Mirakel durch ihre verborgenen Betten geströmt war.
Wieder mußte er daran denken, was Stan Goldman sagen würde.
»He, all right. Wir begehen Fehler. Aber wer hat uns damals, als wir mit Graben, Bergbau und Bewässerung anfingen, gesagt, daß es so weit kommen würde? Niemand. Wir mußten es allein auf die harte Art herausfinden.
Wo waren denn diese verdammten UFOs und Götter auf Wagen und Propheten, als wir sie wirklich gebraucht hätten? Niemand hat uns einen Leitfaden gegeben, wie man einen Planeten managt. Wir schreiben ihn jetzt selber aufgrund bitterer Erfahrung.«
George verkniff sich ein trauriges Lächeln. Er wußte auch, wie seine Antwort aussähe.
Ich beklage den Moa, welchen meine eigenen Vorfahren ausgerottet haben. Ich beklage die Kraniche und Wale, die von den pakeha hingemetzelt wurden. Ich beklage auch euch, ihr kleinen Fische.
Wenn all dies getan wäre, würde er Gläser füllen für seine Freunde und auf jede verlorene Species trinken. Und dann, wenn noch genug Bier in der Welt übrig wäre, würde er auch einen Toast ausbringen auf die, welche noch sterben müßten.
»Komm, Sepak!« sagte George und faltete sein Taschentuch wieder zusammen. »Du kannst mir helfen, die Kranmontierung zu justieren. Sie muß perfekt sein, wenn wir den Zylinder aus seinem Bad heben.«
»Präzision, Präzision!« stöhnte Sepak. Trotz seines Ingenieurdiploms von der Universität in Port Moresby – und einer Haut, die nicht dunkler war als die Georges – brummte er: »Ihr feinen Pinkel setzt zu viel Vertrauen auf eure kostbaren Maschinen. Die werden eure Seelen stehlen, glaube mir! Wir Gimi wissen darüber Bescheid. Warum hat gerade neulich mein Großvater mir gesagt…«
Zufrieden, eine gesunde Dosis seiner eigenen Medizin zu bekommen, hörte George höflich zu, während sie zusammen arbeiteten. Er erlitt in ironischem Rollentausch die gleichen Schuldgefühle, die er zahllosen
Weitere Kostenlose Bücher