Erde
wolle. Es war ein amorphes Ding, ohne Zentrum oder offizielles Dogma. Nur wenige derer, die der Mutter Verehrung zollten, hielten das für eine Religion per se.
In der Tat hatten viele ältere Glaubensrichtungen den einfachen, wirksamen Brauch des Mitmachens bei gaianischen Ritualen in sich aufgenommen. Katholiken änderten Feiern der Jungfrau, so daß Maria jetzt ein stärkeres persönliches Interesse am Wohlergehen des Planeten hatte als in den Tagen von Chartres oder Nantes.
Und dennoch kannte Jen viele, für die dies mehr war als eine bloße Aussage oder Bewegung. Mehr als nur eine Art, einer von Gefahr bedrohten Welt Achtung zu erweisen. Es gab Radikale, für die der Gaia-Kult eine militante Kirche war. Die sahen eine Rückkehr der alten prähistorischen Göttin, die endlich bereit war, ihrer Verbannung durch brutale männliche Gottheiten ein Ende zu machen – durch Zeus, Shiva, Jehovah und die kriegerischen Geister, die einst von den Ndebele als Idole verehrt worden waren. Für gaianische Radikale gab es keine ›gemäßigten‹ Versuche, die Erde zu retten. Technologie und das ›böse männliche Prinzip‹ waren Feinde, die niedergeworfen werden mußten.
Böses männliches Prinzip – mein runzliger Hintern! Männer haben ihre Bräuche.
Aus irgendeinem Grunde dachte Jen an ihren Enkel, dessen Verranntheit in die Zwillingswelten von Abstraktion und Technik stereotypisch waren für das, was die Radikalen als ›Wissenschaft des Penis‹ bezeichneten. Es war einige Zeit her, daß sie zuletzt von dem Jungen gehört hatte. Sie fragte sich, was Alex vorhatte.
Vielleicht etwas schrecklich Verrücktes und äußerst die Erde erschütternd, wie ich ihn kenne.
Bald kam der Schlußakt des Abends. Die Reinigung. Jen lächelte und berührte nacheinander jede Opfergabe, die ihr von Erwachsenen und Kindern dargebracht wurde, die alle einen Weidenkorb mit Stücken weltlicher Archäologie präsentierten.
Blechstücke… zerbrochene Zündkerzen… Stücke festen, unzerstörbaren Plastiks… Ein Korb war fast gefüllt mit alten Aluminiumdosen für Bier, die immer noch blank waren, nachdem sie überall auf der Erde in Verruf gekommen waren. Jede Sammlung war das Werk eines Mitglieds dieser Gemeinschaft, die in seiner oder ihrer Freizeit während vieler Monate ausgeführt worden war. Jeder Korb enthielt den Ertrag eines Quadratmeters Boden, der penibel und liebevoll durchsiebt war, bis keine Spur menschlicher Manufaktur mehr zu erkennen war, soweit es Zeit, Kraft und Hingabe des betreffenden Individuums erlaubten. Auf diese Weise gab jede Person dem Planeten immer mehr ein kleines bißchen seinem natürlichen Zustand zurück.
Was war aber natürlich? Gewiß nicht die Konturen des Landes, das erodiert und durch menschliche Tätigkeit gänzlich bewegt worden war.
Nicht die Feuchtgebiete, deren durchsickernde Wassermassen nie wieder genau die gleichen sein würden, selbst dort, wo das Schuttabladen verboten war und die Inspektoren die kostbare Etikette ›rein und makellos‹ gewährleisteten. Denn das besagte nur, daß der Gehalt an Schwermetallen und petroorganischen Verbindungen zu gering war, um die Gesundheit eines Menschen während einer normalen Lebensdauer zu schädigen. Es bedeutete keineswegs ›natürlich‹.
Dieses Prädikat galt insbesondere nicht für jenes komplizierte Lebewesen, das man Ackerkrume nennt. Durchsetzt von zahllosen einheimischen Arten, angefüllt mit Eindringlingen, die unabsichtlich oder planmäßig von anderen Kontinenten hergebracht waren – von Regenwürmern über Rädertierchen zu winzigen Pilzen und Bakterien – an manchen Stellen gedieh diese Erde, und an manchen starb sie, um ihre staubige Substanz den Winden zu übergeben. Mikroskopische Siege, Niederlagen und Patts wurden über den ganzen Globus hin in jedem Hektar erfochten, und nirgends konnte ein Purist sagen, daß das Resultat überhaupt ›natürlich‹ wäre.
Jen blickte über die linke Schulter und sah die strahlenden Türme von Kuwenezi. Die Hauptarche war matt, aber ihre große Front aus Kristallglas reflektierte eine wogende Schwester des Mondes. In jenen künstlichen Habitaten dösten Pflanzen und Tiere, die aus hundert verdorbenen Ökosystemen geborgen worden waren. Für die Radikalen waren solche Archen glorifizierte Kerker – bloße Beschwichtigungsmittel für das beunruhigte Gewissen der Menschheit, damit das Gemetzel der Natur weitergehen konnte.
Aber für Jen waren die großen Archenanlagen keine Gefängnisse,
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