Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
die menschlichen Tauben. Sie beruhigen sich langsam. Der Stoffhaufen entpuppt sich als ein Mann mit weißen Haaren.
»Jeck loss Jeck elans!«, sagt er mit einem breiten Grinsen in die Runde.
»Do bes ävver och ene Jeck, Rick!« Ein großer Mann mit Bauch hilft ihm auf.
»Sulang mer noch laache künne!«
Freundliche kölsche Sprüche. Als wenn es immer so einfach wäre. Immer Toleranz und Respekt, die Narren untereinander. Dann noch lachen, schunkeln und einen mittrinken, und die Welt ist wieder in Ordnung. In Köln gibt es nie Probleme. In meiner Stirn graben sich Gebirgsfalten ein. Ich taste nach dem Diamanten.
Das blutdurchtränkte Geschirrtuch auf dem Tresen irritiert mich. Ich gehe darauf zu und rieche in zwei Schritt Entfernung schon den Alkohol, den die blauen Karos auf weißem Grund ausdünsten. Hinter der Theke neben der Spüle liegt ein Flaschenhals mit Schraubverschluss, vor der Theke sehe ich nun auch den zerborstenen Boden und weitere Glasscherben.
»Der Rick wollte nur für Ruhe sorgen, als er auf den Stuhl gestiegen ist. Ich hatte gerade für die Trude den Crème de Cassis vom Regal genommen, als Rick die Probleme mit dem Übergewicht bekommen hat.«
»Du meinst Gleichgewicht.«
»Der hat sein Gewicht über den Punkt gebracht, an dem er es noch selbst halten konnte. Er hat also Probleme mit dem Übergewicht bekommen!« Meine Mutter bleibt in völliger Übereinstimmung mit kölscher Logik. »Irgendwie hat er meine Flasche gepackt, die ich gerade abstellen wollte. Den Rest kannst du dir denken. Ach, da liegt ja noch ein Tuch. Das kannst du auch gleich mitnehmen.« Sie greift das Geschirrtuch und schmeißt es in die Kiste neben dem Küchendurchgang, in der bereits ein größerer Haufen likördurchtränkter Handtücher liegt. Ich frage mich, wie meine Mutter es schafft, einen Liter klebrigen Crème de Cassis wegzuwischen, während alle anderen Menschen sich aufgeregt um den Verursacher des Schadens scharen, der am Boden liegt.
»Hättest du nicht erst mal ihm helfen sollen?« Ich zeige auf Rick, der inzwischen breitbeinig auf dem Stuhl sitzt, von dem er gestürzt war.
»Ach was. Ich hab doch gesehen, dass ihm nichts passiert ist. Das gibt nicht mal einen blauen Fleck. Sein Pegel ist schon hoch genug.« Sie steht vollkommen gelassen vor mir, Handfeger und Schaufel in den Händen. Auf der Schaufel liegen bereits sämtliche Glassplitter – auch der Hals mit dem Schraubverschluss. Als sich die letzten Gäste langsam an den großen Stammtisch setzen und ich noch immer am Rand der Theke stehe, hat meine Mutter bereits einmal durchgewischt, die Theke beidseitig gereinigt, eine neue Crème-de-Cassis-Flasche nach oben geholt, für Trude den in der Flasche fast schwarz wirkenden Likör mit Sekt so blutrot aufgegossen, wie er auf den Küchentüchern aussieht, das Glas samt fünf frisch gezapften Kölsch an den Tisch gebracht, ein traditionelles Sieben-Minuten-Pils für den großen Mann angezapft und steht nun Gläser polierend hinter dem Tresen. Sie hat alles im Blick und alles im Griff.
Einen Augenblick lang hört man nur ein paar Takte aus den Boxen. Meine Mutter nutzt die Chance.
»Alsu, ehr Leevche, ehr hatt üch jetz widder beruhig«, stellt sie kategorisch fest. Wer sich jetzt noch nicht beruhigt haben sollte, weiß zumindest, dass das nun seine Pflicht ist. Eine weitere folgt sofort: »Ehr wesst jo, wenn ene Nichraucher hee eren kütt, müsst ehr üür Sargnähl usmaache oder drusse wigger flöppe. Usserdäm müsse de Finstere op.«
Die Gäste befolgen die Anweisungen prompt. Die Fenster werden aufgerissen, zwei Menschen gehen nach draußen, und der Rest macht die Zigaretten augenblicklich aus. Meine Mutter raucht schon seit Jahren nicht mehr. Sie bekommt schmale Augen und schimpft mit den Leuten, die mit dem letzten Zigarettenzug in einen Aufzug oder in die Straßenbahn steigen, um dort ihren Qualm auszuatmen. Kann ich verstehen. Finde ich auch ekelhaft. Wenn sich jemand ein Nervengift zuführen will, soll er das gern tun – aber wenn er es auch mir aufzwingt, dann werde ich sauer. Meine Mutter hat ihre Kneipe deswegen auch nicht als Raucherclub angemeldet, aber gemäß der übertoleranten kölschen Art lässt sie es zu, dass ihre Gäste in ihrem Laden rauchen, solange es niemanden stört.
Mir fällt auf, dass ich schon viele Jahre nicht mehr während der Öffnungszeiten in der Wirtschaft war. Ich weiß nun auch wieder, warum.
Fast alle scheinen zu rauchen. Luft gibt es in dem Laden nur
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