Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
eines Internierungslagers für Musiker am Butzweiler Hof, um sicherzustellen, dass sie auch dann weiter ihrer Bestimmung folgen, wenn ihre Gier nach Geld gar nicht mehr befriedigt wird.
In anderen deutschen Städten gab es ebenfalls Flashmobs und spontane Kundgebungen. In München gestalteten sich die Proteste friedlich, doch in Hamburg-St. Pauli und Berlin-Kreuzberg schien es zeitweise, als sei der 1. Mai vorverlegt worden.
Unter dem Artikel gibt es zwei Videolinks. Einer zeigt die chaotischen Zustände vor meinem geliebten Dom. Traurig schaut er auf die Menschen herab, die sich gegenseitig mit Gemüse bewerfen, und schüttelt kaum merklich sein jahrhundertealtes Gebälk.
Der andere Link zeigt Rick in einer Vorabendsendung. Die Moderatoren befragen ihn so kurz zu den Protesten, dass er nicht mal dazu kommt, den ursprünglichen Grund zu erwähnen, und schicken ihn dann auf die Bühne. Er hat ein neues Lied geschrieben, die Musik klingt hastig auf dem Keyboard zusammengezimmert, aber der Text sitzt in jeder Silbe. Er kommt mir irgendwie bekannt vor. Als hätte Rick einen anderen Schlagerstar beklaut.
Ihr habt uns tausend Mal belogen
Ihr habt uns tausend Mal geleimt
Habt uns eiskalt und frech betrogen
Und jetzt habt ihr uns zum Feind
Ricks Augen glänzen, als er das singt. Er sonnt sich in seinem neuen Ruhm, und mir läuft ein Schauer den Rücken hinunter. Wenn eine Punkband »jetzt habt ihr uns zum Feind« singt, hakt man es ab und tätschelt den zornigen jungen Männern das Köpfchen. Aber wenn ein grauhaariger Mann einen so aggressiven Satz im Schlagertonfall vorträgt, kann das nicht gut enden. Die Durian gräbt meinen Magen um. Ich sehe kurz vom Laptop auf. Dort draußen liegen das Meer und die bewaldeten Hügel. Ein Land ohne Wutbürger. Ich sollte den Rechner ausmachen, aber meine Neugier ist stärker. Ich klicke noch einen Link an. Er führt zu Deutschlands größter Talkshow. Der Schauspieler Hennes Bennicke hat ein Buch geschrieben, das zu den Protesten passt. Wut macht gut heißt es. Der Moderator hält es in die Kamera. Auf dem Cover sieht Bennicke die Leser so vorwurfsvoll an, als hätten sie gerade ein Reh ermordet. Ich stelle mir vor, Rick und er würden plötzlich das Land regieren. Ein Durianschwall füllt meinen Schädel mit Schwefel und lässt meine Ohren sausen. Bennicke richtet seinen Zeigefinger wie einen Degen auf einen jungen Fußballer oder Castingstar, der neben ihm sitzt, und raunt: »Nix lachen, hier! Die Welt geht unter! Da müssen wir alle mal ein bisschen überlegen, Junge. Da müssen wir alle mal unsere Hose geraderücken und was tun, Junge. Diese Gleichgültigkeit, die kotzt mich an, ganz ehrlich. Wut macht gut!«
Ich stoppe das Video.
Er hat unrecht. Wut macht nicht gut. Hartmut und ich haben an eine experimentelle Regierung, die alles radikal »richtig« machen wollte, unsere Tochter verloren. Ich schließe den Browser und lese nur noch die Mail meiner Mutter.
Meine liebe Susanne,
hier geht’s drunter und drüber. Der Umsatz ist toll, aber sonst läuft nichts, wie es soll.
Udo hat Biostudenten beauftragt, in den Tiroler Alpen Kurzohrmäuse und in der rechtsseitigen Niederung der Donau rumänische Hamster zu beschaffen. Udo sagt, die Idee stammt von Dir. Strenggeschützte Tiere. Das kann doch nicht gutgehen. Susanne, was hast Du dem armen Jungen da für Flöhe in die Ohren gesetzt? Gut, wenn es klappt, wird hier niemals mehr was gebaut …
Es kommen jeden Tag so unglaublich viele Leute. Tägliche Bierlieferungen! Zwei zusätzliche Köche. Fünf zusätzliche Kellner. Eine zweite Putzfrau. Eine Klofrau. So viel Personal hatte ich in der Kneipe über die ganzen Jahre nicht.
Wie lange willst Du eigentlich wegbleiben?
Irmchen geht es prima. Sie liebt ja dieses neue Aquarium. Udo spricht jeden Tag mit ihr. Ist das nicht lieb von ihm?
Ich vermisse Dich, erhole Dich gut, mein Mäuschen,
Deine
Mama
Ich bekomme ein schlechtes Gewissen. Eigentlich müsste ich ihr helfen. Oder … nein! Man muss auch seine eigenen Grenzen erkennen und danach handeln können. Aber meine Mutter hat recht: Das mit den seltenen Tieren war eine ziemlich blöde Idee.
Hallo Udo,
bitte blas die Aktion mit den Tieren ab. Ihr müsst Euch was anderes einfallen lassen. Das geht doch so nicht. Wir können die Fledermäuse und Hamster doch nicht einfach aus ihrem Lebensraum reißen, für unsere Zwecke benutzen und womöglich damit die Arten gefährden. Wie bin ich bloß auf so was gekommen?
Aber
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