Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
du so einen Quatsch lässt. Gestern war doch auch nix.«
»Einen Tag lang konnte ich mich zurückhalten, aber heute Nacht habe ich wieder damit angefangen.«
»Das ist nicht Amazon«, sage ich, da er den Text in eine völlig andere Maske tippt.
»Nein, das ist WordPress«, sagt er. »Ich habe einen Blog zur Dance- und Chartspopszene der Neunziger eröffnet.«
»Warum???«
Nestor tippt den Satz zu Ende, speichert den Artikel, postet ihn und dreht sich zu mir um: »Weil es sonst keiner macht. Dieses Land ist unbesiedelt, zumindest, was halbwegs passable Texte angeht.«
Ich stehe auf seiner Matratze, schaue über seinen Kopf hinweg aus dem Fenster, falte die Hände und reibe mit dem Mittelfinger der linken die Schwimmhaut zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand.
Nestor greift nach der nächsten Maxi auf dem »Noch nicht besprochen«-Stapel, lässt die Hand aber darauf ruhen. Es ist »Up’n Away« von Mr. President. Ich lese den Titel und habe den billigen Kirmesrefrain mit der Sängerin augenblicklich im Ohr. »Up’n away/we need a place to hide.«
»Willst du mich nicht aufhalten?«, fragt Nestor.
Ich antworte nicht.
»In den Chinesischen Garten gehen? Zum Fußball? Auf irgendein Schützenfest?«
Ich klopfe ihm auf die Schultern und sage: »Später, mein Freund. Jetzt muss ich dringend eine Mail schreiben gehen!«
Mein Kuschelmäuschen!
Miu Miu?
Miu Miu?
Ja, ich bin in Los Angeles, weil ich dieses Angebot von UPS bekommen habe, und es tut mir leid, dass ich Dir niemals meine neue Telefonnummer gesendet habe. Ich wollte die Funkstille nicht brechen und Dich zu irgendeiner Reaktion zwingen. Und wie hätte ich Dir nur meine Nummer schicken sollen, ohne ein paar Sätze dazu zu schreiben? Ich bin sehr traurig, dass Du glaubst, ich würde hier in Los Angeles ohne Dich die Sau rauslassen. Das ist nicht so! Glaub mir! Ohne Dich bleibt die Sau im Käfig.
Du denkst Dir jetzt wahrscheinlich: Und was macht der doofe Sack in seiner Freizeit, wenn er schon in der Stadt der Träume ist? Caterina, ich mache im Grunde das, was ich schon immer gemacht habe, seit ich Hartmut kenne. Ich helfe einem Verrückten. Das Projekt heißt Real Life Assistance und ist ein neues Modell einer psychiatrischen Klinik hier in der Nähe, das noch nicht öffentlich gemacht wurde, weil es erst mal ausgewertet werden muss. Die Idee ist: Einerseits arbeiten echte Psychologen mit den Patienten deren Probleme auf. Andererseits kommt jeden Tag ein Pate aus dem »echten Leben« zu Besuch, geht mit dem Patienten im Park der Klinik spazieren und redet mit ihm »von Mann zu Mann«. So ein Pate bin auch ich.
Mein Patient heißt Neill, und er ist süchtig danach, alles in Worte zu fassen. Als er eingeliefert wurde, schrieb er zwanzig Stunden am Tag Blogs und Tweets und Rezensionen. Er hat Computerverbot in der Klinik, zur Entwöhnung, aber er kritzelt jetzt alles mit Filzstiften voll. Die müssen sie ihm geben, sonst ritzt er sich mit allem, was er findet und schreibt mit seinem Blut. Er kann nicht mehr leben, er kann nur noch schreiben. Ich wurde ihm zugeteilt, weil ich durch ein paar Erzählungen über Hartmut nachweisen konnte, dass ich echte Erfahrung mit manischen Männern habe.
Die Voraussetzung für diese Aufgabe ist, dass man nicht studiert hat. Man muss »grounded« sein, wie man hier sagt.
Eben sind Neill und ich noch lange gelaufen. Es gibt einen Chinesischen Garten auf dem Klinikgelände, da sitzt er am liebsten. Er liebt die Kois. Ich erzähle ihm manchmal von mir, wenn er nicht reden will. Wie sehr ich Dich vermisse. Was uns passiert ist. Dann hält er plötzlich meine Hand.
Meine Heldin, glaub mir: Hollywood, Santa Monica, Sunset Strip – das sehe ich nur aus der Frontscheibe des Lieferwagens. Alles hupt, alles drängt, alles stinkt. Ich möchte gerne aussteigen und mir alles ansehen – aber nur mit Dir! Ich möchte hoch in den Laurel Canyon spazieren und die Villen suchen, wo Slash oder Frank Zappa wohnen – aber nur mit Dir! Ich habe viele der Schauplätze von den Videos, die ich immer finden wollte, beim Fahren gefunden. Die kann ich Dir alle zeigen.
Wenn Du möchtest, dass ich komme, fliege ich los, und wir holen das alles nach! Sag nur, was Du wünscht, und ich laufe zum Flughafen!
Ich liebe Dich,
Dein
Amateurbetreuer
PS: Was meinst Du denn mit meiner Mailadresse? Ist doch wie immer.
Ich sende die Mail ab. Sie ist nicht gelogen. Ein paar Stockwerke unter mir arbeitet der neurotische Nestor drei Meter
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