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Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)

Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)

Titel: Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann , Sylvia Witt
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der Vater, der von der Autobahn abfährt, und Lisa liegt auf der Rückbank. Wir verfransen uns in dunklen Wäldern und finden nur ein kleines Dorf. Das einzige Hotel ist ein Familienbetrieb, geführt von einer alten Frau mit weißen Locken, die wir um Mitternacht aus dem Bett reißen, regennass, eine pausbäckige Tochter vorzeigend, die vor lauter Erschöpfung schon schläft. Das ist alles weg, obwohl es passieren sollte, und das Schlimmste ist die Frage: Habe ich die Diebe gerufen? Habe ich den Verbrechern die Tür aufgemacht, die uns das Leben gestohlen haben? Hätte ich »einfach mal den Ball flach halten« sollen, wie mein Mitbewohner es mir vorgeworfen hat, bevor wir alle auseinandergingen? »Unser Kind ist tot, und du machst dir Gedanken darüber, wie du die Regierung stürzen kannst?«, hat Susanne damals geschimpft, entsetzt darüber, dass ich auf unseren Verlust nur mit Zorn reagierte. Sie sagte: »Du bist schon wieder wacker bei der Revolution, wie du es immer gewesen bist.« Ich denke an die jungen Männer im arabischen Frühling, die jetzt gerade in Algier, Kairo und Tripolis alles andere als den Ball flach halten. Setzen sie auch das Leben ihrer Kinder aufs Spiel für ein »höheres Ziel«?
    Ich muss diese Gedanken vertreiben. Ich stelle meinen Rucksack auf das feuchte Gras am Straßenrand, krame den Discman heraus, setze die Kopfhörer auf und lege die CD ein. The Sorrow. Der Professor sitzt in einer Astgabel, lässt die Beinchen baumeln und putzt seine Brille. Er weiß, dass ich weiß, wie stillos es ist, seine eigene Depression mit The Sorrow zu beschallen. Ich laufe weiter, die Musik im Ohr; aus der Tiefe der Landschaft nähern sich Gitarren, die wie Schleifpapier klingen, dann setzt ein Schlagzeug mit Doppelpedal ein. Eine weitere Gitarre singt eine klagende Melodie, dann fließen die einzelnen Teile zu einem synchronen, maschinellen Gehämmer zusammen, und der Sänger beginnt zu schreien. Ich erkenne seine Worte, das ist das Seltsamste. Früher habe ich diese Brüllwürfel nie verstanden. Heute ist es so, als verstünde ich ihn, weil ich selbst nur noch schreien will. Würde ich aber schreien, hätte es keine Konturen mehr, keine Form. Echter Schmerz ist ein einziger, lauter Klang. Er hat nicht die Kraft und die Zeit, sich in Formen gießen zu lassen. Das sieht auch der Professor so, freut sich und klatscht in seiner Astgabel in die Hände. Was ich hier tue, ist falsches Bewusstsein, illegitime Trauer. Aber das ist wiederum gut, denn ich will mich ja schlecht fühlen. Wie denke ich nur? Wie zur Hölle denke ich nur?
    »The worms of afflictioooooooons/take over my heaaaaaaaaaart!!!«, brüllt der Sänger. Ich laufe allein durch den polnischen Wald und lasse mich von einem Österreicher anschreien, der meine Lage mit den Worten »die Würmer der Trübsal erobern mein Herz« kommentiert. Würde Lisa das wollen?
    Ein klappriger Fiat nähert sich. Auf meiner Höhe wird er langsamer. Ich bemerke ihn erst gar nicht, weil The Sorrow so laut in meinen Ohren hämmern. Dann nehme ich die Kopfhörer ab.
    Der Fahrer des Fiats schaut eine halbe Sekunde lang irritiert auf den akustischen Todeskampf, der aus den Muscheln weht, und fragt mich dann: »Może pana podwieźć?«
    Ich zucke mit den Schultern.
    Der Mann zeigt die Landstraße hinab. »Do Trójcy?«
    »Do?«
    »Oh!«, sagt er und legt den Kopf ein wenig zurück: »Du bist Deutscher?«
    Ich nicke, aber nicht, ohne zu zögern. Ich stehe hier auf schlesischem Boden. Meine Vorfahren haben das Land seiner Vorfahren überfallen. 1938 sind sie eingefallen und haben das Leben von Familien beendet, so wie Lisas beendet wurde. Sieben Jahre später, als die Nazis besiegt waren, wurden hier, östlich der Lausitzer Neiße, sämtliche Deutschen über den Fluss auf die andere Seite getrieben. Was würde ich am liebsten mit den Menschen tun, die mir Lisa genommen haben? Ich stelle mich darauf ein, dass der Mann die Vergangenheit genauso wenig vergessen hat. Gleich wird er mir die Fahrertür in die Eier rammen und mich liegenlassen für die Raubtiere. Er ist vielleicht zehn Jahre älter als ich und hat eine Kerbe über dem Auge. Er greift zum Griff. Ich halte die Hände vor den Schritt. Statt mich zu kastrieren, stößt er die Beifahrertür auf.
    »Ich nehme dich mit. Nach Trójca. Ich heiße Marek.« Er spricht fehlerfrei, aber sein Akzent schiebt die Worte vor sich her wie eine Schneeschaufel.
    »Steig ein!«, sagt er, »ich treffe Freunde. Habe was zu feiern.«
    Ich

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