Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
der Rest bleibt sitzen, zu träge, um ihren Häuptling zu verteidigen. Ich wechsle die Hand und delle Marek mit der rechten Faust noch die Schläfe ein. »Du bist also froh, dass du deine kleine Tochter los bist?« Kaum bin ich als Deutscher einen halben Tag in Polen, schlage ich schon einen Einheimischen zu Brei.
Marek flucht, greift in seine Tasche und klappt ein Messer auf. Ich weiche zurück. In einer Sekunde schieben sich sämtliche Frauen des Raumes zwischen uns und halten ihn davon ab, mich abzustechen. Wütend reden sie auf ihn ein, die Wirtin an vorderster Front. Ein Mann will ihm helfen, aber Jennifer Rush drückt ihn wieder in den Stuhl.
Ich nehme meinen Rucksack, hebe die Hände und sage: »Ich gehe. I leave. Äh. Go.«
Das letzte Wort verstehen die Frauen. Synchron flehen mich ein paar Dutzend Augen an, zu bleiben.
Ich winke ab: »Nein, nein, nein. Nie. Ich … nein.«
Ich stolpere aus der Kneipe und laufe los. Die Tür platzt auf, und einige Frauen folgen mir, allen voran Jennifer Rush und die Wirtin. Sie beschleunigen und holen mich ein. Die Wirtin plappert auf Polnisch wie ein Wasserfall und umfährt ständig meinen Körper mit ihren Händen, als wolle sie meine Silhouette abzeichnen und ein letztes Mal rahmen, bevor wieder hundert Jahre lang kein Deutscher vorbeikommt, der nur Wasser trinkt. Jennifer Rush holt mich ein, fasst meinen Kopf und küsst mich einfach. Lang bleiben ihre warmen Lippen auf meinen kleben. Ich weiß nicht, wie mir geschieht. Mein Herz rast, und das Blut schießt gegen meinen Willen in meinen Schwanz. Ich habe seit Monaten keinen Körperkontakt mehr gehabt. Jennifer Rushs Lippen sind voll und fest. Ich stoße sie weg.
»Ja, sagt mal! Spinnt ihr denn alle?«
Jennifer Rush sieht eine Sekunde lang beschämt zu Boden. Dann reden sie alle erneut auf mich ein. Ich halte meine Rucksackschlaufen fest und laufe, meine Sohlen treiben die Erde unter mir hinweg. Jennifer Rush hat mich geküsst, und ich habe sie erst nach zwei Sekunden weggestoßen. Oder vier? Oder fünf? Hätte Lisa das gewollt? Die Frauen plärren. Ich laufe. Ich renne. Bis sie leiser werden. Bis die Lunge brennt. Bis wieder Wald kommt.
> Hartmut
< Susanne
Die Spülwassersammlung
16. 03. 2011
50° 58′ 52.97″ N, 6° 56′ 53.14″ E
Mein Kopf brummt bereits den ganzen Vormittag, als wäre Aschermittwoch. Dabei war der schon letzte Woche. Eine schlimme Zeit. Alle verkleiden sich, es wird gelacht, getanzt, gesungen und gescherzt. Man muss sich gründlich verstecken, will man in Köln dem Karneval aus dem Weg gehen. Köln ist das Synonym für Karneval. Letzten Sommer plante ich, Lisa in ein winziges Bienenkostümchen zu stecken und mit ihr sanft zu den Klängen des großen Rosenmontagszuges zu schunkeln. Stattdessen versuchte nun jeder Takt, mir eine Träne aus dem Auge zu drücken.
Das Fenster ist auf Kipp gestellt, um fast frische Stadtluft reinzulassen. Ich rolle meinen Kopf vorsichtig im Nacken, dehne ihn nach vorn und zur Seite, aber es ist keine Verspannung auszumachen. Meine Kiefer sind auch ganz locker. Und die letzte Mens ist gerade mal ein paar Tage her. Damit können die Kopfschmerzen also nicht zusammenhängen. Ich versuche, das Brummen zu ignorieren, und nehme mir mein Buch, Säulen der Erde . Lesen ist leise und lenkt ab. Damit ist meinem Kopf gedient und meiner Mutter, die noch schläft. Das Lesezeichen liegt falsch. Bestimmt fünfzig Seiten zu weit vorn, doch ich finde meinen Anschluss schnell.
Die Straßenbahn vor der Tür bremst und bimmelt energisch. Eine Autotür knallt. Ich zucke augenblicklich zusammen und halte die Luft an. Laute Blechgeräusche sind für mich Klänge der Hölle geworden, denn mit ihnen kommen die Erinnerungen an den Unfall und die schwarze Zeit danach. Reiz und Reaktion, wie nach einer Dressur. Es ist würdelos. Draußen poltert eine männliche Stimme los. Eine zweite fällt ein, sie schaukeln sich hoch. Ich verstehe nur einzelne Fetzen. Das liegt nicht an der Lautstärke, sondern an den Sprachen. Beide Männer mischen gleichzeitig Deutsch und Türkisch. Das jeweilige Deutsch ist vollkommen akzentfrei, im Satzbau korrekt. Wie das Türkisch ist, kann ich nicht beurteilen, aber nach Türkisch hört es sich eindeutig an. Die Stimmen werden immer lauter, aber die beiden Männer streiten sich nicht. Sie sind in einem einvernehmlichen Dialog. Sie schreien sich nicht an, sie echauffieren sich. Es klopft. Draußen. Zwischen dem Dialog. Dann bollert es. Die Stimmen werden
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