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Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)

Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)

Titel: Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Uschmann , Sylvia Witt
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das nicht!« Er funkelt seinen Schlagzeuger an, der noch etwas grün im Gesicht ist. Der streckt ihm die belegte Zunge heraus.
    »Ich habe einen Discman dabei«, sage ich und komme mir uralt vor.
    Aber das bin ich ja auch geworden.

    Ich überquere die Altstadtbrücke und in ihrer Mitte, unsichtbar, die deutsch-polnische Grenze. Ich schaue noch einmal zurück. Das letzte Stück deutschen Bodens ragt in Form einer Café-Terrasse in die Neiße hinein. Die Terrasse gehört zu einer alten Mühle, die heute als Restaurant dient. In meinem alten Leben hätte ich dort gesessen, direkt an der Mauer, am östlichsten Rand Deutschlands. Susanne hätte Lisa festgehalten, die mit ihren kleinen Beinen auf einem Stuhl gestanden und sich neugierig über die breite Mauer zum Wasser gebeugt hätte. Ich darf nicht daran denken. Dieses Leben gibt es nicht. Es sollte sein, aber es wurde abgesetzt, wie eine Sendung, die das Testscreening nicht übersteht. Ich muss laufen. Nur noch laufen. Ich schiebe meine Daumen unter die Schlaufen meines Rucksacks und setze einen Fuß vor den anderen.
    Das Laufen hilft, solange es Eindrücke gibt, hier, auf der schlesischen Seite. Am Postplatz passiere ich eine seltsame Ruine. Gras wächst auf den verfallenen Torbögen wie fransiges Haar. Eine winzige Kapelle aus Holz mit einer Zwiebelkuppel. Alles sauber geziegelt und gepflegt, aber unfassbar klein. Die meisten Badezimmer in deutschen Vorstädten sind größer. Ich komme auf eine lange Straße. Sie wirkt wie ein Außenbezirk von Berlin. Wie Pankow. Breites Pflaster, langstielige Laternen, fünfstöckige Plattenbauten mit Parkplätzen davor. Ich laufe. Und laufe.
    Auf einem Fußballplatz vor einem Sportzentrum trainiert eine Mannschaft. Der Rasen ist knatschgrün. Der flache Bau dahinter sieht nach humorloser Athletenschule aus. Ein paar der Sportler zeigen zu mir herüber und plaudern über mich, den einsamen Wanderer mit dem riesigen Rucksack, dessen Koteletten in ungefähr fünftausend Kilometern zu Turnstangen für sibirische Kinder gefrieren werden. Zgorzelec ist polnisch und heißt Görlitz. Die Straßenzüge, die ich hier durchlaufe, sind der frühere Ostteil der Stadt. Immer wieder finde ich uralte Bauten, die wie Teile ehemaliger Burgen oder Wehranlagen aussehen. Betäubte Riesen mit zerschlagenen Rautenglasfenstern.
    Ein Ball fliegt über den Zaun, und ich fange ihn. Der Torwart kommt herbeigelaufen, mustert mich näher und sagt: »Thomas Müller? Ja? Müller?« Er macht eine Schussbewegung und simuliert Jubel. Ich weiß nicht, wovon er redet. Ich habe seit langem keinen Fußball mehr gesehen. Ich habe mir die WM verboten.
    »Er heißt Gerd«, sage ich.
    »Gerd?«
    Der Torwart sieht mich an wie eine Konifere. Seine Kameraden rufen ihn zurück.

    Zwanzig Minuten laufe ich durch die Felder, dann durchquere ich ein Örtchen namens Łagów. Ich bin froh, dass es sich mir in den Weg stellt, denn das kurze Stück Natur hat Merkwürdiges bewirkt. In der Stille hat sich wieder das Leben genähert, das wir hätten leben können. Lisa, die ins Feld läuft, weil sie ein Tierchen gesehen hat. Susanne, die sie einfängt. Lisa, die quiekt und sich beschwert, eine süße rote Mütze auf dem Kopf. Jetzt sehe ich wieder Häuser und Autos. Um erneut mit Berlin zu sprechen: Łagów ist Französisch-Buchholz. Dunkle Gärten. Schmutzig weiße Ziermauern. Autowerkstätten. Nur ab und zu schiebt sich eine alte Frau an mir vorbei. An einer Ecke stehen Tische mit Sonnenschirmen zwischen dichtgewachsenen Birken mit weißer Rinde. Das Café heißt »U Szwagrów« und hat keine Gäste. Ich überlege kurz haltzumachen, aber die Birken wirken, als schöben sie sich zusammen, sobald man sich zwischen sie gesetzt hat. Es dauert nicht lange, bis Łagów hinter mir liegt.

    Was folgt, ist Wald. Links und rechts der Straße dichter, dunkler Wald.
    Dazu gibt es gar keinen Vergleich mehr mit Berlin, überhaupt mit keinem Ort, sondern nur mit einer Zeit. Kindheit auf dem Rücksitz der Eltern. Stau auf der Autobahn. Der Vater fährt ab und kurvt stundenlang über Straßen wie diese. Wald wie Wände aus Holz und Laub, davor ein schmaler Streifen Wiese, durchsetzt von Schachtelhalm und Bärenklau. Mit dem Wald kommen die Gedanken. An Bärenklau und was mein bester Freund und ich mit diesem Gewächs erlebt haben. An den Wald in Hohenlohe, in dem ich einst schon mal versucht habe zu verschwinden. Vor diese Bilder schiebt sich erneut das Leben, das mir gestohlen wurde. Diesmal bin ich

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