Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
kann so etwas machen. Aber ein Mann? Zurück zur Mutter, nach einem gescheiterten Leben? Hat Sigmund Freud sich dafür die Finger wundgeschrieben?
Wenn es einem Mann geht, wie es mir geht, dann muss er entweder an einen Ort, der auf seiner Lebenslandkarte noch unbetreten ist, oder an einen, den er schon mal erhellt hat, als er noch nicht erwachsen war. Ich habe mich für Letzteres entschieden. Du erinnerst Dich an die alten Weltkriegsbunker mit den Grafitti am Strand? An die Maikäfer, die zu Hunderten aus dem Gewölbe aufstiegen, so dass wir kreischend über den Sand bis zur Promenade rannten? An das Finale der Weltmeisterschaft 1998, in dem Frankreich mit Zinédine Zidane Champion wurde? An den Bärtigen, der danach eine Stunde lang ohne Pause die Nationalhymne sang? Genau. Ich bin in Lacanau-Océan, an der französischen Atlantikküste. Es hat sich kaum etwas verändert. Die Bunker stehen immer noch, und das Meer ist kälter als eine Langnese-Truhe. Die Surfer sehen sportlicher aus als früher, sie haben eine bessere Haltung angenommen. Im Vergnügungsviertel vorne gibt es immer noch die Spielhalle. Weißt Du noch? Wir haben hier damals Ridge Racer gespielt, lange bevor er es als erster Europa-Titel für die Playstation 1 rauskam! Was haben wir da Münzen reingeworfen! Jetzt ist es lauter und sportlicher geworden. Guitar Hero, Rock Band , Tanzspiele, Skifahren – du denkst, du bist in Tokio. Das Dorf nach hinten raus wirkt immer noch wie Griechenland im 19. Jahrhundert. Die flachen, weißen Häuser. Die stillen Straßen. In der Nähe gibt es die höchste Düne Europas, das haben wir damals gar nicht gewusst, das ging unter in den zehn Paletten Hansa. Ich weiß noch, wie Du und Jens euch damals über mich amüsiert habt, weil ich schon die komplizierten Bücher für mein kommendes Studium las, während den ganzen Tag im Bus Sublime lief. Ich arbeite jetzt hier, auf dem Campingplatz, auf dem wir immer waren. Les Grand Pins. Die großen Pinien. Die gibt’s immer noch, die wunderbaren Waldstücke mit dem weichen Nadelteppich.
Ich mache keinen Urlaub. Nicht, dass Du das denkst. Wie könnte ich Urlaub machen? Wenn ich sage, es geht mir gut, dann meine ich damit, dass ich lernen will zu dienen. Ich will lernen, nicht mehr der zu sein, der denkt, er sei der tapfere David, und im Grunde will, dass die Welt nach seiner Pfeife tanzt, weil seine moralische Überlegenheit ihn zum Goliath macht. Ich habe einen Job als Mädchen für alles angenommen. Ich putze Klos, repariere Zäune, reinige den Pool, picke Müll. Im Spätsommer war natürlich am meisten los, aber Du wärst verblüfft, wie viele Wohnmobile und Trailer selbst über Weihnachten hier stehen. Ich lerne Demut, verstehst Du? Wahnsinnig machen mich nur die Besucher, die heute so jung sind, wie wir es damals waren. Sie haben keinen Geschmack mehr und keinen Respekt vor dem Alter. Es gibt sogar Männer, die Prosecco aus Dosen trinken. Dazu hören sie House oder Hardtrance. Sie sind völlig lebensunfähig. Einer hat sich an einem frischen Baguette die Oberlippe aufgerissen. Du weißt, die Baguettes vorne im Laden sind sehr kross. Er hat geblutet wie ein Schwein. Ich musste ihn zum Arzt fahren, der ihn mit zwei Stichen nähte. Natürlich hat er ihn betäubt, aber der Junge schrie trotzdem wie Gourcuff, wenn er seinen Stammplatz in der Nationalmannschaft verliert. Am schlimmsten sind die Engländer. Sie kotzen in den Pool und wollen zusehen, wie ich die Bröckchen abschöpfe. Dabei singen sie »Wonderwall« von Oasis. Aber wenn es Abend wird und ich unter den Pinien einfach meine Runden drehe, dann geht es mir so gut, wie es mir eben gehen kann, nach dem, was geschehen ist. Ich picke Müll, hebe eine Flasche auf und wechsele ein paar Worte mit dem Chef, der weiterhin nur zähneknirschend akzeptiert, dass ich statt der Sprache der einzig wahren Kulturnation der Welt bloß Englisch spreche. Ich verteile keine Closeline mehr und will diesen Platz und seine Besucher nicht verändern. Im Gegenteil. Ich freue mich darüber, dass er ist, wie er immer war. Ich hoffe, Du findest auch eine Form von Ruhe.
Sei urmarmt,
Dein
Hartmut
PS: Die Rechner sind hier nicht immer frei, und ich checke die Post nicht täglich.
Ich lese die Nachricht noch einmal durch und denke, sie ist glaubhaft. Man lügt am besten, indem man nah an der Wahrheit bleibt und viele Details verwendet. Details sind entscheidend. Man kann zwar den kleinsten Tupfer seiner erfundenen Geschichte im Netz
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