Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
als mein altes Handy seinen Geist aufgab. Eigentlich wollte ich nie ein Smartphone, aber es war schon beim Kauf so alt, dass es gegen die neuen Modelle eigentlich ein Dumbphone ist. Die Pensionswirtin bietet mir Wodka an. Ich winke ab. Was denkt sie, warum mich die Frauen gejagt haben? Ich öffne den Mailaccount auf dem Display und lese die Nachricht.
Ich weiß, wir sollen Funkstille halten. Aber das gilt doch mehr für die Pärchen untereinander, oder? Yannick geht es gut. Pudding, Ohrhärchenkraulen, viele Decken. Bei mir selbst ist es ähnlich. Und bei Dir?
Typisch. Er schreibt nicht mal seinen Namen. Funkstille gilt nur für die Pärchen? Bei uns Männern soll sie kein Problem sein? Warum zittere ich dann, als ich die Nachricht schließe? Yannick geht es gut. Das beruhigt mich. Wenn es dem Kater gutgeht, hat mein bester Freund sich auch nicht aufgegeben. Er schreibt mir nicht einfach so. Er will testen, ob ich Unsinn mache. Ich weiß das. So war er immer. Er rettet mich, wenn ich mir selber schade, ob ich mich gerade wahnhaft in einem Projekt verrenne und wie ein Psychopath Kaffeefilter im Maul zerfetze, plötzlich ohne Möbel die reine Askese auf einem Sitzkissen ausprobiere oder mich tagelang mit Zwölftonmusik geißele, weil ich einmal eine Pop-Platte zu mögen mich verstieg – er ist immer da gewesen und hat mich zurück auf den Teppich geholt. Wenn ich ihm jetzt antworte und er durch irgendein Wort erahnt, was ich vorhabe, springt er auf und holt mich. »Nach Sibirien?«, würde er sagen, »was machst du denn für einen Scheiß?« Er würde mich in der Nacht aus dem Dorf schleusen und vor der Heimfahrt mit mir ins Stadion von Energie Cottbus gehen. Zufälligerweise würden Bochum oder St. Pauli an dem Tag zu Gast sein, und er würde mich in die Gästekurve zerren, zwei Liter Bier ausgeben und mich zwingen, alle bescheuerten Gesänge mitzugrölen, bis meine fixe Idee von mir abfällt wie ein außerirdischer Parasit. Das muss ich unbedingt verhindern.
Die Pensionswirtin öffnet die Tür zu einem kleinen Nebenraum und holt ein Foto in einem alten Holzrahmen an den Tisch. Es zeigt sie als junge Frau neben einem Mann mit hohen Wangenknochen, abstehenden Ohren und sehr wachen Augen. Daneben zwei Kinder, das Mädchen mit Schleife im Haar, der Junge in Latzhose. Ist es üblich, dass Pensionswirtinnen einem alte Familienfotos zeigen? In dem Raum, aus dem sie es geholt hat, steht ein alter grauer Computerbildschirm auf einem Schreibtisch. Ich lobe das Bild, in dem ich es ansehe und nicke, aber sie bemerkt, dass meine Augen immer wieder zu dem klobigen Monitor wandern.
»Komputer?«, fragt sie, steht auf und lädt mich ein zu folgen. Ich betrete den Raum. Er riecht muffig. Auf einem Wandregal über dem Rechner stehen ein paar polnisch beschriftete Ordner. Sie legt ihren Finger auf die Maus und öffnet den Browser. Erstaunt sehe ich sie aus elchgroßen Augen an. Mit Internet habe ich hier nicht gerechnet. Obwohl, was denke ich eigentlich? Noch bin ich nicht in Sibirien. Yannick könnte von hier aus in zwei Stunden Deutschland erreichen.
»Schmidt machen«, sagt die Wirtin und lässt mich am Computer sitzen. Ich habe zweihundert Euro bezahlt, da dürfte das Internet-Terminal inklusive sein. Ich muss meinem besten Freund ausführlich antworten, es geht nicht anders. Er weiß: Erzähle ich keine lange Geschichte, dann lüge ich. Das ist bei mir umgekehrt als bei anderen Menschen, die immer dann schwindeln, wenn sie sich um Kopf und Kragen schwafeln. Stellt sich nur die Frage, wo ich angeblich bin und was ich dort tue. Wo gehen Menschen hin, wenn sie trauern und sich selbst wiederfinden müssen? An Orte ihrer Vergangenheit! An Orte, an denen sie waren, bevor die Geschichte mit dem tragischen Ende begann. Wo war ich, als es unsere WG noch nicht gab? Wo waren wir gemeinsam, als die Bildschirme noch so groß waren wie der graue Pixeltank, der gerade vor mir steht? Ich schließe die Augen und versetze mich zurück. Ziehe die Kulisse aus meiner Erinnerung über das gelbe Gitternetz des inneren Holodecks. Und schreibe.
Mein Lieber!
Ich habe mich lange gefragt, wo ich hingehen soll. Nach Hause? Wo ist das? Bochum? Bochum ist da, wo unsere Geschichte begann, die schließlich ein Ende nahm, das so unendlich weh tut. In Bochum hätte ich das Gefühl, ich müsste alles noch mal von vorne durchleben. Ich glaube, in Bochum würde ich verrückt.
Susanne ist zu ihrer Mutter nach Köln gezogen, vorerst. Ich glaube, eine Tochter
Weitere Kostenlose Bücher