Erdenrund: Hartmut und ich auf Weltreise (German Edition)
Stehtisch schlägt. Das Bier schwappt rhythmisch mit. Ricks rechtes Auge driftet ab, das linke strahlt. Ihm gefällt die Rolle, und er genießt die Aufmerksamkeit. Ob er singt oder legendäre Gesten nachspielt, scheint für ihn dabei irrelevant zu sein.
»Darum sage ich: Die Nüüßer Stroß muss esu blieve, wie sie nun mal ist. Wir können uns nicht alles gefallen lassen. Und damit gebe ich dat Wood an dä Herr Thier ab.«
»Vielen Dank, Herr Muller. Das war eine bewegende Einleitungsrede.«
Herr Thier, der eher wie ein Tierchen wirkt, macht eine Pause und schaut stechend durch seine dünngefasste Brille auf die Zuhörer. Er pumpt den schmalen Brustkorb auf, ehe er sagt: »Wir sind Kölner. Wir sind Weidenpescher. Wir leben auf diesem Grund und Boden, in ehrwürdigen Häusern. Wir haben Tradition!«
»Jawoll!!!« Ein Mann springt von seinem Stuhl auf und reißt die Arme hoch. Er würde jetzt sofort in den Krieg ziehen. Das war leicht.
Herr Thier räuspert sich. Ich habe immer noch keine Ahnung, wer er überhaupt ist. Er stellt sich nicht vor. Er denkt wohl, ein Thier braucht das nicht. Er sagt: »Wir wissen genau, was wir nicht wollen. Weidenpesch soll nicht aussehen wie Chorweiler! Wir brauchen unser eigenes Ambiente, und das können wir nur auf eine Weise behalten.«
Die Leute schauen sich gegenseitig an. Ich höre Flüstern, und dann ist es wieder still.
»Was immer wir machen, wir müssen uns einer unabdingbaren Realität stellen: Sie werden diese Erweiterung bauen. Da führt kein Weg dran vorbei.« Herr Thier beugt seinen Oberkörper zurück und zieht das Kinn nach oben wie ein Fernsehprediger, der Gottes Gnade erfleht.
Trude ruft: »Un woför sin mer dann hee? Wat bess du denn för ene Opportuniss, oder geiht dir de Fott op Grundies?«
Die Gipsköpfe kichern, die Menschen auch. Herr Thier bleibt unbewegt überheblich. Einen ängstlichen Eindruck macht er dabei nicht. Trudes letzte Vermutung, dass ihm der Arsch auf Grundeis geht, kann also schon mal nicht zutreffen.
Herr Thier mimt Lehrer Lämpel, als er sagt: »Wir kennen uns nicht, und ich verstehe, dass Sie erst mal empört sind, aber ich kann Ihnen versichern, dass ich – und das sage ich, obwohl ich das gar nicht wissen und noch weniger sagen darf – aufgrund meiner Position nach meinem jetzigen Kenntnisstand mitbekommen konnte, dass der Umbau beschlossene Sache ist. Die Gelder sind genehmigt. Punkt. Es steht nur noch zur Debatte, welche Seite weichen muss.«
Der »Kölsche Klüngel« tobt. Die Haare ziehen ihre Menschen nach oben und drücken sie wieder auf die Stühle. Sie wedeln nach links und rechts oder bleiben ganz still und starr. Die Stimmen sausen schwirrend in schneller Abfolge im Kreis und reißen die Emotionen mit sich, die sich mit jeder Runde verstärken. So entstehen Tornados.
Herr Thier sagt nichts, hebt aber beschwichtigend die Hände. Wie albern. Aber es wirkt. »Es ist aufwühlend, ja, aber wir haben eine Chance. Und die müssen wir nutzen. Wir. Sie, Sie, Sie und ich, wir alle haben eine Gemeinsamkeit. Wir wohnen alle auf der rechten Seite!« Nun klingt Herr Thier wie ein jovialer Staubsaugervertreter, der das Lob auf das alte Modell dazu benutzt, dessen Unzulänglichkeit hervorzuheben. Und dann noch so ein hochtrabendes Wortspiel, »auf der rechten Seite wohnen«. Wozu hören wir uns eigentlich diesen Rhetorikmist an? »Nach meinem jetzigen Kenntnisstand hält in diesem Augenblick Herr Budde, den einige von Ihnen vielleicht kennen, eine Versammlung für die Bewohner der linken Seite ab. Dort wird die Bürgerinitiative für den Erhalt der linken Seite der Neusser Straße gegründet. Und wer von Ihnen Herrn Budde kennt, weiß, dass das ein ernstzunehmender Gegner ist!« Herr Thiers Augen werden schmal, und sein Mund verzieht sich bitter.
Es klimpert leise, als sich die kleinmütigen Karnevalsorden wieder hinter der antiken Sparkästchenbox verstecken. Die Büste von Konrad Adenauer bekommt einen Erstickungsanfall, und der Kölner Dom, der in allen möglichen Formen und Materialien im »Kölsche Klüngel« herumsteht und auf Bildern aller Art in verschiedenen Bauphasen, Zeiten und Beleuchtungssituationen zu sehen ist, lässt in sämtlichen Variationen den Südturm hängen. Eine Straßenseite lässt zu, dass die andere abgerissen wird? In Köln? Hier ist Solidarität kein Fremdwort. Im Gegenteil. Sie reicht bis tief in die sonst überall so verpönte Vetternwirtschaft und ist in Köln hoch respektiert. So sehr, dass es
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