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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Holdstock
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der Vollständigkeit, der Wirklichkeit erzeugten.
    Diese Illusion bewahrte ihr die Vernunft, half ihr, mit einer Situation fertig zu werden, in der sie eigentlich schreiend zum Ufer des Flusses hätte rennen müssen, dessen tiefe, eisige, dunkle Wasser eine ganz eigenständige Lösung aller Probleme bereithielten.
    Sie sank in Schlaf. Das Essen lag ihr schwer im Magen und stieß ihr mit aggressivem Nachgeschmack auf. Bei dem fernen jaulenden Schrei irgendeines gewichtigen Tieres sträubten sich ihr am ganzen Körper die Haare vor Angst, daß es knisterte. Sie bildete sich ein, das Untier krieche durch die unterirdischen Kavernen zu ihr hin, schnüffelnd, witternd, sein unerbittliches Nahen mit dröhnendem Ruf ankündigend. In panischer Angst riß sie die Augen auf und starrte in die beleuchtete Ecke der Höhle. Die zierliche Moir zitterte heftig vor Kälte. Als Elspeth sich aufrichtete und das Gesicht verzog, weil der Schmerz der verletzten Kopfhaut ihr durch den ganzen Körper schoß, grinste Moir sie vergnügt an und sagte: „Darren ist dort unten.“
    „Wo?“
    Moir blickte in die Richtung, aus der das Tiergebrüll kam, einen engen, niederen Gang hinunter. Elspeth schüttelte die letzten klebenden Reste ihres Schlafes ab und erkannte, daß es sich um ein physikalisches, nicht um ein biologisches Geräusch handelte. Wind?
    „Dort unten“, erläuterte Moir, „beim Lied der Erde.“
    „Ist das das aeranische Orakel – dieser Ton?“ fragte sie erregt.
    „Das Lied der Erde, ja. Es bläst aus einer Höhle nahe beim crog, und Iondai befragt es, wenn er etwas über die Zukunft wissen will. Am Tage nach deiner ersten Jagd hatten wir es dir gezeigt.“ Trauer klang aus ihrer Stimme und das Gedenken an die glücklicheren Stunden vor der Ankunft der Jenseitler.
    „Iondai befragt den Wind? Wie macht er das?“
    Moir wunderte sich offensichtlich, daß Elspeth ausgerechnet jetzt so interessiert war. „Er stellt sich oben hin und spricht zu ihm“, sagte sie achselzuckend.
    „Und Darren tut das jetzt auch?“
    „Nein“, sagte Moir, überrascht, daß Elspeth sie nicht verstanden hatte. „Nein, er wartet bloß, daß es schwächer wird, damit wir durch den Gang nach oben gehen können. Er sagt, er hat gehört, daß es weiter oben noch mehrere Gänge gibt, und der Wind kommt nur durch einen. Aber sie führen alle in die Berge hinauf, und wir können sie benutzen, um den Jägern in den Rücken zu kommen.“
    Neugierig verließ Elspeth die Höhle und kroch in den Gang, dem sausenden Wind entgegen. Das Brausen wurde immer ohrenbetäubender, je weiter sie kam, und erstarb dann plötzlich. Elspeth zögerte und fragte sich, was da geschehen sein mochte; da sah sie Darren, der ihr entgegenkam. Mißtrauisch musterte er die Gestalt, die da im Halbdunkel vor ihm stand, und erkannte Elspeth. „Hol Moir“, sagte er, „wir haben vielleicht nicht viel Zeit.“
    „Hier bin ich schon“, rief das Mädchen, und Elspeth sah, daß Moir ihr in den Tunnel nachgegangen war (vielleicht weil sie Angst gehabt hatte, allein in der Höhle zu bleiben) und daß es das Licht ihrer Fackel gewesen war, das sie hinter sich bemerkt hatte. Moir übergab Darren die Fackel, der mit ihr voranging. Moir schulterte den Lederpacken mit dem übriggebliebenen Essen. Elspeth wollte helfen, doch das lehnte Moir ab. „Wenn er schwerer wird, dann ja“, sagte sie, „jetzt ist es noch nicht nötig.“ Elspeth bemerkte, daß Moir immer noch den kleinen Beutel aus Schwarzflüglerleder um den Hals trug.
    Sie gingen wieder zum Haupt-Windkanal, und Darren trat vorsichtig in den breiten, niedrigen Gang, blieb einen Moment mit vorgehaltener Fackel stehen und blickte in den Rachen des Tunnels. Elspeth sah auf der anderen Seite einen schwachen Lichtschimmer.
    „Das ist das Orakel“, flüsterte Moir. „Wenn Iondai dort unten ist, kann er vielleicht die Fackel sehen.“
    „Hast du das gehört, Darren?“ fragte Elspeth.
    „Iondai interessiert mich gar nicht“, erwiderte Darren mürrisch, doch er senkte die Fackel so weit, daß sein Körper das Licht zum anderen Ende des Ganges hin abschirmte. „Kommt weiter.“
    Er schritt voran über den steinigen Boden. Moir jammerte, weil es so naß war, und wenn sie ärgerliche Schreie ausstieß oder platschend in eine Pfütze trat, wurde ihr Bruder böse.
    Elspeth fand es lästig, daß der Gang so niedrig war, doch sie blieb ruhig und gab sich Mühe, immer tiefgebückt zu gehen. Ein kalter Wind, nicht stark, aber

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