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Erdwind

Erdwind

Titel: Erdwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Holdstock
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Antwort schien auf ihren Lippen zu liegen, doch als ihr Hirn versuchte, die wichtigsten Bilder der Vergangenheit zusammenzuketten …
    Finsternis …
    Leere …
    Sie spürte, daß sie totenbleich wurde. Einen Bruder? Dieser Mann – nein, Knabe – der den schlaffen Leib … einer Frau … Mutter …? Schwester …? in den Armen hielt … Ein Jüngling, Schnee – Blut auf dem Schnee – aber ein Bruder? Bruchstücke von Bildern, ineinander verwoben. Eine Stadt, Straßen, Fahrzeuge, Leute – ein Gesicht schien aus der Menge hervorzutauchen, das Gesicht eines Mannes, den sie eigentlich kennen müßte, und doch – es entschwand, verging, tauchte wieder weg, von den schwarzen fremden Gesichtern verschluckt. Ein Bruder?
    „Nein“, sagte sie und wußte instinktiv, daß sie log, und doch konnte sie das, was wahr sein mußte, nicht glauben. „Nein, ich habe keinen Bruder.“
    „Dann kannst du auch nicht wissen, wie es ist. Du kannst es nicht verstehen.“
    Ein ahnungsvolles Gefühl beschlich Elspeth, während sie voran zum Felsen ging. Der Wind wurde stärker, kälter, würde ganz bestimmt zu einem ordentlichen Sturm auffrischen; ein melancholisches Heulen in der oberen Atmosphäre, das trübe Licht in der weiten unfruchtbaren Farnmoos-Ebene bildeten vielleicht die psychologischen Ansatzpunkte eines Gefühls, das sie für eine vorübergehende Stimmung hielt, das aber andauerte und immer intensiver wurde. Sie fühlte instinktiv, daß Unheil lauerte. Noch vor Stunden hatte sie sich frei von feindseligen Einflüssen gefühlt. Ihr Streit mit Gorstein war eine Art Katharsis gewesen. Vom Zugriff der Spannung erlöst, beruhigt, weil Gorstein Verständnis für die Situation bewies, hatte sie ein paar wunderbare Minuten lang das Gefühl gehabt, daß die Not vorbei war. Als sie jedoch die Lage etwas realistischer überdachte, wurde ihr klar, daß das Unheil eben erst begann. Moir und Darren waren aufs schwerste zerstritten. Das Raumschiff hatte sie auseinandergebracht; und trotzdem waren sie einander noch immer verbunden. Haß war ein starkes Bindeglied, doch was sie beieinanderhielt, war mehr als Haß – Darren war immer noch für Moir verantwortlich, obwohl sie aus dem crog ausgestoßen war. Davor würde er sich auch nicht drücken; dafür sorgte der aus Brauch und Sitte gewachsene Instinkt. Aber wie sich dieses erzwungene Beieinander auswirken würde, konnte Elspeth nicht voraussagen. Vielleicht würde wieder eine gewisse Wärme zwischen ihnen aufkommen; vielleicht würde aber die Reibung unerträglich werden. Wenn das Orakel gesagt hatte, Moir sei dazu bestimmt, eine große Kriegerin zu werden, dann war vielleicht, da der Jüngling die Prophezeiung kannte, ein Element der Angst hinzugekommen, weil er gesehen hatte, wie Moir im Laufe der Zeit heranwuchs, stark wurde, immer mehr Selbstsicherheit gewann, die sie auch brauchen würde, um außerhalb der schützenden Wälle des crog zu leben. Und wie würden sich beide Elspeth gegenüber verhalten? Einer Jenseitlerin, einer aus dem verdächtigen Sternenvolk, das schuld war an dem ganzen Zwiespalt? Angenommen, sie würde nicht mehr im crog geduldet, würde wie Moir verbannt in das Land außerhalb der Erdwälle – angenommen, sie gestatteten ihr nicht mehr zu fragen, zu forschen, zu üben, zu lernen – angenommen, sie würde nie den Sinn der höheren Symbole herausbekommen … und jenes einen höchsten Symbols … Wenn sie stürbe, ohne erfahren zu haben, was der Erdwind war! Oder wenn sie weiterlebte, gesund, kräftig, ohne Vergangenheit, mit einer unsicheren Zukunft – der sie tätig und furchtlos entgegensah –, des Erdwinds bewußt, vielleicht sogar auf ihn reagierend, doch ohne Wissen von der Natur dieses Symbols, von dem, was es tat, was es für sie getan hatte, woher es kam … fremd oder nicht fremd … von drinnen oder von draußen …
    Sie mußte es wissen!
    Sie rannte, angespannt, naß vom Schweiß, der ihr kalt und unangenehm an der Innenseite ihrer zerfetzten Kleidung hinabfloß. Moir trabte hinter ihr her, ohne eine Ahnung von den Ängsten zu haben, die, wie schon so oft, die hochgewachsene Jenseitlerin bedrängten, fast beherrschten.
    Als Elspeth wieder auf dem windigen Hochpfad war, mußte sie darüber lächeln, daß ihre egoistische Motivation so dominierend und so überragend wichtig geworden war. Es war eine so irrationale Geisteshaltung. Was hatte, im Vergleich zum bloßen Überleben, das Verstehen einer simplen Felszeichnung schon für einen Wert? Warum

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