Erdwind
ja schließlich nur eine Wahrscheinlichkeit ausgesagt, nicht wahr? Sie wollen aber anscheinend beides auf einmal haben. Das hiesige Orakel kann nicht absolut sein, weil absolute Aussagen nicht mit dem tao vereinbar sind; doch in diesem Falle glauben Sie an die Unfehlbarkeit des ching, weil …“ Sie brach ab und starrte ihn an. Er schwieg. „Warum eigentlich, Peter? Warum liegt Ihnen so verzweifelt viel daran, daß diese Mission durchgeführt wird? Der Wert eines Orakels hängt doch nicht davon ab, daß man seine Voraussage eintreffen sieht … warum, Peter?“ wiederholte Elspeth ihre eindringliche Frage.
Sie erschrak vor dem schrecklichen Ausdruck seines Gesichts; er sah aus wie von bösen Geistern gejagt, nicht wie ein Mann, der mit dem tao im inneren und äußeren Frieden ist, sondern wie jemand, der das Gleichgewicht verloren hat und jeden Moment fürchten muß, in einen psychologischen Abgrund zu stürzen, in den zeitlichen und ewigen Tod.
„Sie haben natürlich recht“, sagte er schließlich. „Meine Angst, meine Verzweiflung gehen sehr tief. Diese Welt ist eine entsetzliche Welt, Elspeth, und ich bin entsetzt über sie; doch warum ich solche Angst habe, verstehe ich nicht ganz. Ich weiß nur, daß ich ein schwacher Mensch bin. Das habe ich nie verborgen, und ich habe mich dessen auch nie geschämt. Meine Schwäche war irrelevant, weil ich in anderer Hinsicht so stark war; das ist bei uns Rationalisten ganz natürlich. Aber ich bin dem Tode nahe, auf kurzfristigen Abruf, eine Sache von ein paar Monaten. Ich fürchte mich nicht vor dem Tode – ich fürchte mich vor der menschlichen Reaktion auf sein Näherkommen. In den nächsten Monaten brauche ich Stärke, Stärke von außen her, die Stärke eines bestimmten Mannes, denn nur ein Mann ist stark genug, um mich zu stützen …“
„Schiffs-Meister Gorstein …“
„Ja. Gorstein. Er war mein nächster Freund, mein bester Freund unter den Menschen, und das während des größten Teils meiner Mannesjahre. Merkwürdig, wie Freundschaft unbewußt bleiben kann, bis es zu einer Krisis kommt, nicht wahr? Ich habe erst kürzlich gemerkt, wie sehr ich ihn brauche, damit er mir durch meine letzten Lebensmonate hilft. Ich glaube, ohne ihn würde ich einen sehr schlimmen Tod haben. Mit ihm dagegen einen friedlichen. Und ein friedlicher Tod ist mein größter Wunsch.“
Elspeth wollte etwas einwenden, in einem ähnlichen Ton, wie Gorstein heute vormittag mit ihr gesprochen hatte, um Ashka die Selbstsucht vorzuwerfen, mit der er sein eigenes Leben über das der Kolonie stellte. Doch sie merkte, daß sie es nicht konnte, und auf jeden Fall hatte sie den Verdacht, daß es ihm nicht so sehr auf die Durchführung der Mission ankam, als darauf, daß er sich mit dem Schiffs-Meister im Einklang fühlen konnte.
Er fuhr fort: „Ich glaube, daß Gorstein sehr rasch mein Feind werden wird, wenn die Mission verschoben wird … Ich glaube es, weil mir das Orakel ‚Lied der Erde’ etwas ganz Bestimmtes gesagt hat … Sie können es mir armem Sterblichen vielleicht nicht so nachfühlen, aber die Aussicht, daß zwischen Gorstein und mir Feindschaft entsteht, ist vernichtend.“
„Sie haben mein Mitgefühl, Peter, glauben Sie mir. Aber …“ Sie brach ab und starrte ihm ins bleiche Gesicht; sein zerbrechlicher Körper zitterte vor Kälte; er wirkte mehr wie ein Kind als wie ein Mann von tiefer Intuition. Was geschah ihm, fragte sie sich. Wie konnte er so hartnäckig die Tatsache ignorieren, daß der Aeran anders war? Oder lag es an ihr selbst? Nahm sie dieses Anderssein so leicht in Kauf, daß sie eine vernünftigere Alternative übersah? Sie dachte dabei natürlich an das Orakel – daß das Lied der Erde, wenn es Feindschaft zwischen Gorstein und Ashka vorausgesagt hatte, etwas vorausgesagt hatte, das tatsächlich eintreffen würde, ganz gleich, wie sich die Beziehungen zwischen Raumschiff und crog entwickelten.
Armer Mann, dachte sie. Er rennt direkt in den Konflikt und klammert sich doch an den Glauben, daß ein Konflikt vermieden werden kann. Wie tragisch das für ihn sein wird … wie traurig …
Vorahnung durchschauerte sie. Sie sah Ashka so wie er war, todesbewußt, voller Angst vor dem Faktum des Todes, voller Angst vor dem Verlust der guten Freunde, die er hatte, voller Angst, kurz gesagt, vor all jenem Sterblich-Menschlichen, das andere unter Kontrolle hielten, weil er, der Rationalist, ihnen dabei half. Und ihm konnte keiner helfen.
„Es tut mir leid“,
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