Erdwind
dachte er. Der Augenblick der Finsternis, das Erlöschen des Geistes.
Er war ganz ruhig. Blut floß, das Herz schlug. Sein Hirn schloß sich zu, die Jalousie fiel, und sein Denken bereitete sich auf das Ende seiner Existenz vor.
Ein einzelner Gedanke drängte sich vor: sieben Monate!
Und sofort zog er sich aus dem Wirbel des Todes heraus, schärfte seinen Blick, belebte den schon gestorbenen Teil seines Bewußtseins. Es war noch nicht so weit, daß er ste r ben mußte! Sein Tod war erst in sieben Monaten fällig, und daher konnte er jetzt nicht sterben!
Er fühlte den Schmerz und mußte schreien, doch er ve r schluckte den Schrei und konzentrierte sich wieder, diesmal auf die ve r zweifelt schwere Aufgabe, am Leben zu bleiben. Er schloß seine Gedanken von der Umgebung ab (Dunke l heit, Kälte, das Zurüc k treten vertrauter Gegenstände); er regelte seinen Herzschlag. Er war langsam, doch nicht lan g sam genug. Er zwang sein Herz zu schleppenden, aber sta r ken Schlägen. Er tauchte tiefer in sein Denken, betrieb Tief-Konzentration nach der Methode, die er gelernt hatte, brac h te seine vegetativen Funktionen unter Ko n trolle, soweit es seine schwache Kraft erlaubte. Er ließ die Blu t gefäße um die klaffende Wunde sich zusammenziehen; das Blut strömte nicht mehr, sondern tröpfelte und versiegte dann gän z lich. Er aktivierte das Mark in seinen Knochen; Hormone flossen durch seinen Leib, beruhi g ten hier, regten dort an …
Er begab sich in seinen Leib und inspizierte den Schaden.
Eine zerrissene Magenwand, eine zerfetzte Niere, die Lunge beschädigt, die Leber angekratzt, irreparabel zerri s sene Nerven am linken Bein und an der linken Seite … und noch viel, viel mehr – aber das war alles nicht so schlimm wie die Orga n schäden. Er kniff die zerfetzte Niere ab, spannte die Muskeln längs des M a genrisses an; mehr konnte er nicht tun, doch er fühlte, daß es g e nug war. Der Prozeß des Sterbens war au f gehalten, bestimmt – lange genug, daß jemand ihn finden und ihm erste Hilfe leisten würde, bis er ins Lazarett geschafft werden konnte.
Jetzt entspannte er sich, immer noch in tiefer Konzentr a tion, aber unbesorgt.
Er hatte sich das Leben gerettet, und nur durch das ching. Hätte er nicht gewußt, daß die Zeit seines Sterbens noch nicht da war, wenn er sich nur Mühe gab, dagegen anz u kämpfen, dann hätte er sein Leben verrinnen lassen; oder wenn er sich gegen Gorstein gewehrt hätte, dann besäße er vielleicht nicht mehr die Fähigkeit oder die Entschlußkraft, die Reserven seines Geistes voll einz u setzen …
Er wünschte, er könnte Gorstein sagen, was bei seiner Tat herausgekommen war: daß der Mordversuch gerade die a b solute Gültigkeit des ching bewiesen hatte …
Er wünschte, er könnte Gorsteins Gesicht sehen, wenn dieser feststellen mußte, wie sich dieser schmächtige Asiat ans Leben klammerte. Gorstein würde seine Ansicht ändern, nicht wahr? Er würde zugeben müssen, daß er sich geirrt hatte …
Daß er sich geirrt hatte!
Daß er unrecht gehabt hatte!
Daß …
Ashkas Herz fing an zu rasen, gegen seinen Willen.
Schwärze verschlang ihn. Er bildete sich ein, Gorstein l a chen zu hören; das zerrte an seinem Gehörnerv. Ein machtvo l ler Wind summte in seinem Kopf. „Nur noch Sekunden …“
Nicht die Sekunden von sieben Monaten, sondern Seku n den … ein paar Minuten, ein paar Stunden … ein Orakel, das ins Abs o lute schauen konnte, hatte seinen absoluten Tod innerhalb von Minuten nach der Voraussage vorausgesagt.
Und alles nur, weil er gezweifelt hatte.
Er hatte nur ein paar Sekunden lang am ching gezweifelt, es war wirklich nur ein vorübergehendes Gedankenflimmern gewesen. Aber er hatte gezweifelt. Im Zweifel lag Veränd e rung; Fragen bedeutete, Alternativen zu setzen; Alternativen konnte man folgen oder gegen sie ankämpfen; er hatte g e wußt, daß sein Tod fällig war, und hatte es akzeptiert. Doch dieser A u genblick des Zweifelns hatte seine Beziehung zum ching verändert, sein eig e nes Leben hatte sich gegabelt … er hatte einen Weg eingeschlagen, den das ching von vornhe r ein abgelehnt hatte; ein alternatives Leben, in dem er unmi t telbar vom Tode bedroht war, wenn er Gorstein nicht g e horchte.
Hätte er einen Schrei zustande gebracht, so hätte er g e schrien. Wie die Dinge lagen, blieb er still und stieg wieder in seinen Körper hinunter. Er war deprimiert, doch vielleicht zum erste n mal in seinem Leben erfaßte er, wie wahrhaft subtil
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